74 - Mein Leben und Streben
ich einen Vorwurf machen könnte. Die zahlreichen Prozesse, zu denen meine Gegner mich förmlich zwingen, geben mir reichlich Gelegenheit, Erfahrungen zu machen, und ich muß sagen, daß ich alle diese Herren, sowohl Straf- als auch Zivilrichter, nur hochachten kann. Ich habe sogar den Fall erlebt, daß ein Dresdner Richter mir recht gab, obwohl alle seine Verwandten und Bekannten gegen mich waren und ihn in diesem Sinn zu beeinflussen suchten. Welche Genugtuung und welch ein Vertrauen zu dem ganzen Richterstand dies erweckt, das weiß nur der, der Gleiches wie ich erlebte.
In Beziehung auf den Strafvollzug habe ich dasselbe auszusprechen. Ich habe während meiner Gefangenschaft nicht einen einzigen Oberbeamten oder Aufseher kennengelernt, der mir in Beziehung auf Gerechtigkeit und Humanität, Grund zu irgendeinem Tadel gegeben hätte. Ich behaupte sogar, daß die Aufseher die Strenge des Dienstes viel stärker empfinden als der Gefangene selbst. Ich habe Hunderte von Malen eine Güte, eine Geduld und Langmut bewundert, welche mir unmöglich gewesen wäre. Das Gefängnis ist kein Konzerthaus und kein Tanzsalon, sondern eine sehr, sehr ernste Stätte, in welcher der Mensch zur Erkenntnis seiner selbst zu kommen hat. Derjenige Detinierte, der so verständig ist, sich dies zu sagen, wird niemals Grund zur Klage, sondern alle mögliche Hilfe finden, das, was ihm vorzuwerfen war, vergessen zu machen. Es gab Beamte, die ich herzlich liebgewann, und ich bin vollständig überzeugt, daß ihre Erwiderung dieser meiner Zuneigung nicht etwa nur vorgetäuscht, sondern ehrlich und aufrichtig war.
Wenn die Erfolge unserer Rechtsprechung und unseres Strafvollzugs trotzdem nicht solche sind, wie wir sie uns wünschen, so tragen wahrlich nicht die Richter und auch nicht die Strafanstaltsbeamten die Schuld, sondern die Ursachen sind ganz anderswo zu suchen, nämlich in der Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung, in der törichten Selbstgerechtigkeit des lieben Nächsten, in gewissen, allzu tief eingefressenen Vorurteilen und nicht zum geringsten auch in unserer sogenannten, hochgepriesenen ‚Kriminalpsychologie‘ an welche nur gewisse Fachleute glauben, nicht aber der wirkliche Menschenkenner und noch viel weniger der, um den es sich hier eigentlich handelt, nämlich der sogenannte – Verbrecher.
Dies sind die Quellen, aus denen immer wieder neue Straftaten und neue Rückfälle fließen, obgleich doch sonst alles mögliche geschieht, diese trüben Wasser einzudämmen und nach und nach zum Versiegen zu bringen. Soll ich sie mit Beispielen belegen und damit sogleich bei der letzten, der ‚Kriminalpsychologie‘, beginnen, so liegen vor mir mehrere Werke dieses hochinteressanten, äußerst strittigen Fachs aufgeschlagen, deren Inhalt von Beweisen dessen, was ich behaupte, geradezu wimmelt. Einer der Herren Verfasser, ein bekannter Staatsanwalt, zeichnet sich durch seine zahlreichen Versuche aus, die Gesetzgebung und den Strafvollzug in mildere, humanere Bahnen zu lenken. Er hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er wird, wann und wo es sich um diese Humanisierung handelt, oft genannt und würde ein Segen auf diesem Gebiet sein, wenn er nicht als Kriminalpsychologe das wieder zerstörte, was er als Vorkämpfer der Humanität aufzubauen strebt. Ich nenne auch hier keinen Namen, denn es kommt mir nicht auf die Person, sondern auf die Sache an. Als Menschenfreund im höchsten Grad beachtenswert, kann er als ‚Seelenforscher‘ in fast noch höherem Grad unbedachtsam und grausam sein. Indem er seine öffentlichen Behauptungen mit Beweisen zu belegen versucht, läßt er sich so weit hinreißen, Personen, die vor dreißig und noch mehr Jahren bestraft worden sind, nun aber sich in mühsam errungener, öffentlicher Stellung befinden, mit in seine ‚psychiatrischen‘ Betrachtungen zu ziehen und sie in seinen Schriften derart kenntlich zu machen, daß jedermann weiß, wen er meint. Von einem Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt, antwortete er, daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt sei, es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube. Ich unterlasse es, kritische Bemerkungen hieran zu knüpfen. Aber selbst wenn es wahr wäre, daß es einen solchen Paragraphen gibt, wer zwingt den Herrn Staatsanwalt, einen derartigen Paragraphen zuliebe gegen seine eigene, sonstige Humanität zu handeln und Menschen, die ihm nie etwas zuleid taten und deren Schutz ihm als dem Vertreter des Staates obzuliegen hatte, bei lebendigem Leib mit dem Messer
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