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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Schneegestöber gelaufen. Es hat mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es zog mich wieder und immer wieder zurück. Niemand erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt. Ob irgend jemand an meiner Stelle das ausgehalten hätte, daß weiß ich nicht, ich glaube es aber kaum. Ich war sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder und müder. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. In solchen Zeiten war die lichte Gestalt in mir vollständig verschwunden. Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie im Traum. Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben. Und er kam, nicht daheim in der Heimat, sondern in Leipzig, wohin mich eine Theaterangelegenheit führte. Dort habe ich, der ich gar nichts Derartiges brauchte, Rauchwaren gekauft und bin mit ihnen verschwunden, ohne zu bezahlen. Wie ich es angefangen habe, dies fertigzubringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. Ich weiß von der darauffolgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr, weder im einzelnen noch im ganzen. Ich kann mich auch nicht auf den Wortlaut des Urteils besinnen. Ich habe bis jetzt geglaubt, daß die Strafe vier Jahre Gefängnis betragen habe; nach dem aber, was jetzt hierüber in den Zeitungen steht, ist es noch ein Monat darüber gewesen. Doch das ist Nebensache. Hauptsache ist, daß der Abgrund nicht vergeblich für mich offengestanden hatte. Ich war hinabgestürzt; ich wurde in das Landesgefängnis Zwickau eingeliefert.
    Ehe ich mich über diese meine Detentien verbreite, habe ich mich gegen einige Vorurteile und falsche Anschauungen zu wenden, die sich gegen alles, was mit dem Strafvollzug zusammenhängt, richten und mit denen nun doch endlich einmal aufgeräumt werden sollte. Ich habe manchen gebildeten Mitgefangenen in begreiflicher, aber unberechtigter Erbitterung drohen hören, daß er nach seiner Entlassung ein Buch über seine Gefangenschaft schreiben werde, um die ebenso schweren wie unzähligen Mängel unserer Rechtspflege und unseres Strafvollzugs aufzudecken. Ein verständiger Mann lächelt über solche Drohungen, die zwar ausgesprochen, aber nur höchst selten ausgeführt werden. Jeder entlassene Gefangene, der Ehrgefühl besitzt, ist froh, die Zeit der Strafe hinter sich zu haben. Es fällt ihm nicht ein, das, was bisher doch nur wenige wußten, nun, da es überstanden ist, an die volle Öffentlichkeit zu bringen. Er schweigt also. Und das ist gut, weil sein Buch, wenn er es schriebe, gewiß beweisen würde, daß unter tausend Gefangenen kaum einer ist, der über sich und seine Bestrafung unbefangen und sachgemäß zu urteilen vermag. Ich aber glaube, mich zu dieser Sachlichkeit und Unbefangenheit emporgearbeitet zu haben; ich halte mein Urteil für wohlerwogen und richtig und fühle mich verpflichtet, hier folgende Punkte festzustellen:
    Die Zeiten, in denen die Gefängnisse als ‚Verbrecherschulen‘ bezeichnet werden durften, sind längst vorüber. In unseren Strafanstalten geht es nicht weniger moralisch und nicht weniger human als in der Freiheit zu.
    Das, was man einst als ‚Verbrecherwelt‘ brandmarkte, gibt es nicht mehr. Die Bewohnerschaft der heutigen Strafhäuser rekrutiert sich aus allen Ständen des Volkes. Sie setzt sich in Beziehung auf Beruf und Intelligenz aus denselben Prozentsätzen zusammen wie die der ‚Unbestraften‘.
    An der Tat des einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu ‚ent‘-schuldigen.
    Der deutsche Richterstand ist sich der Wahrheit dieses Satzes wohlbewußt. Ich habe keinen einzigen Richter kennengelernt, auch unter denen, welche gegen mich entschieden, dem

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