74 - Mein Leben und Streben
zu zerschneiden? Falls dieser Paragraph in Wirklichkeit vorhanden ist, so wird es für den Reichstag höchste Zeit, ihn einer ernsten Prüfung zu unterwerfen. Wenn jeder einstige Strafgefangene, mag er sich noch so hoch emporgearbeitet haben, durch das Gesetz gezwungen ist, es sich gefallen zu lassen, daß die Herren Kriminalpsychologen ihn öffentlich an den wissenschaftlichen Pranger stellen, so darf man sich gewiß nicht darüber wundern, daß die Kriminalistik keine Neigung zur Besserung zeigt. Ich werde im Verlauf meiner Darstellungen auf diesen Punkt zurückkommen müssen.
Was die Mangelhaftigkeit der Gesetzgebung betrifft, so brauche ich hier nur auf die völlige Schutzlosigkeit der Vorbestraften gewissen Rechtsanwälten gegenüber hinzuweisen. Der größte Schurke kann durch seinen Anwalt in den Besitz der diskreten Akten dessen gelangen, den er verderben will; das wird dann veröffentlicht, und der arme Teufel ist verloren! A. ist ein Schuft; B. ist ein Ehrenmann, aber leider vorbestraft. A. hat die Absicht, den B. zu vernichten. Er braucht ihn bloß zu beleidigen und sich von ihm verklagen zu lassen. Er verlangt dann als Beschuldigter, daß die Strafakten des Klägers vorgelegt werden. Das geschieht. Sie werden in öffentlicher Verhandlung vorgelesen. A. bekommt zehn Mark Beleidigungsstrafe; B. aber ist in die frühere Verachtung und in das frühere Elend zurückgeworfen und wird nun darauf schwören, daß für den einmal Bestraften alle Vorsätze, sich zu ‚bessern‘, nutzlos sind. Wenn er nun rückfällig wird, ist es gewiß kein Wunder. Es gibt leider nicht wenige Rechtsanwälte, welche ganz ohne Bedenken zu dem höchst unfairen Mittel greifen, die Prozesse, die in fachlicher Weise nicht zu gewinnen sind, in persönlich gehässiger, rücksichtsloser Weise zu führen. Auch ich selbst habe es mit solchen Gegnern zu tun gehabt, aber immer gesehen, daß unsere Richter sich durch derartigen Schmutz niemals beeinflussen lassen. Ich bin überzeugt, daß gerade diese Herren es mit Freuden begrüßen würden, wenn endlich jene gesetzlichen Bestimmungen in Wegfall kämen, durch welche es, wie bereits gesagt, jedem Schurken ermöglicht ist, längst Vergangenes und längst Gesühntes wieder aufzudecken. Dann würde die bedeutende Zahl der sogenannten Erbitterungsrückfälle wohl bald in Wegfall kommen.
Daß ich die törichte Selbstgerechtigkeit des ‚lieben Nächsten‘ anführte, geschah mit vollstem Recht. Sie ist und bleibt die Hauptursache der Mißstände, die hier zu besprechen sind. Ich will keineswegs behaupten, daß dies auf einem ethischen Mangel beruht. Ich meine vielmehr, es liegen alte Vorurteile vor, die sich so tief eingefressen haben, daß man sie gar nicht mehr als Vorurteile erkennt, sondern für Wahrheiten hält, an denen niemand zu rütteln vermag. Der ‚Verbrecher‘ war einst vogelfrei; er ist es auch noch heute. Ein jeder hackt auf ihn ein; ist es nicht offen, so geschieht es doch heimlich. Er suche Arbeit, er suche Hilfe, er suche Recht, so wird er jedem andern nachgesetzt. Es gibt im Leben hundert und aberhundert Punkte, von denen aus er als minderwertiger Mensch betrachtet und behandelt wird, und es bedarf von seiner Seite einer ungewöhnlichen Seelenruhe und einer seltenen Willenskraft, dies immer wieder und immer weiter zu ertragen, ohne sich auf die alte Bahn zurückwerfen zu lassen. Die größte Gefahr für ihn liegt darin, daß ihm von dem lieben Nächsten das Ehrgefühl nach und nach abgestumpft oder gar getötet wird. Läßt er es so weit kommen, so ist er verloren, und die Kriminalistik gibt ihr entweder erbittertes oder vollständig gleichgültig gewordenes Opfer nie wieder her. Dies wird und kann gar nicht anders werden, so lange an dem alten, ebenso unsinnigen wie grausamen Vorurteil festgehalten wird, daß jeder bestrafte Mensch für die ganze Zeit seines Lebens als ‚Verbrecher‘ zu betrachten sei. Kürzlich kam in Charlottenburg der Fall vor, daß jemand, der vor über vierzig Jahren bestraft worden war, sich seitdem aber gut geführt hatte, von einem übelwollenden Menschen als ‚geborener Verbrecher‘ bezeichnet wurde. Der Beleidigte verklagte den Beleidiger, doch dieser wurde freigesprochen. Heißt das nicht, einen armen Menschen, der sich mit äußerster Willenskraft aus dem Abgrund emporgearbeitet und vierzig Jahre lang oben bewährt hat, mit brutaler Gewalt wieder hinunterwerfen?
Da unten lag auch ich. Indem ich hierüber weiter berichte, ist es keineswegs
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