74 - Mein Leben und Streben
meldete das sofort dem Katecheten, und dieser nahm mich unter die Kirchensänger auf. Nun war ich also Mitglied sowohl des Bläser- als auch des Kirchenkorps und beschäftigte mich damit, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und neu zu arrangieren. Die Konzerte und Kirchenaufführungen bekamen von jetzt an ein ganz anderes Gepräge.
Ich muß erwähnen, daß diese musikalischen Arbeiten nur Nebenarbeiten waren. Ich wurde durch sie keineswegs von dem Arbeitspensum entbunden, welches jeder Gefangene pro Tag zu liefern hat, wenn er vermeiden will, sich Unannehmlichkeiten auszusetzen. Dieses Pensum ist nicht zu hoch gestellt; ein jeder Arbeitswillige kann es liefern. Wer geschickt ist, der liefert es sogar in wenigen Stunden. Darum blieb mir reichlich genug Zeit für meine kompositionelle Beschäftigung übrig, die ich nicht aufgab, auch als ich aus der Visitation der Portefeuillearbeiter versetzt worden war. Es wurde mir nämlich mein inniger Wusch erfüllt, isoliert zu werden.
Ich hatte gleich bei meiner Einlieferung gebeten, eine Zelle für mich allein zu bekommen; die Erfüllung dieses Wunsches war aber nicht angängig gewesen. Erst nun, da man über mich zu einem psychologisch abgeschlossenen Resultat kam, wurde ich in das Isolierhaus versetzt und unmittelbar neben dem Arbeitsraum des Inspektors desselben einquartiert. Er war ein hochgebildeter, sehr pflichtbewußter und humaner Herr, dessen besonderer Schreiber ich wurde. Das war eine Stelle, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Ich mache hier auf den psychologisch bedeutungsvollen Umstand aufmerksam, daß ich zur Zeit meiner Einlieferung vollständig unfähig gewesen war, Schreiber zu sein, nun aber für fähig gehalten wurde, eine Schreiberstelle zu bekleiden, welche große geistige Um- und Einsicht erforderte und die höchste Vertrauensstelle war, die es in der ganzen Anstalt gab. Mein Inspektor war nämlich neben seiner Direktion des Isolierhauses noch beruflich schriftstellerisch tätig. Diese seine Tätigkeit bezog sich auf die besondere Statistik unserer Anstalt und auf das Wesen und die Aufgaben des Strafvollzugs überhaupt. Er schrieb die hierauf bezüglichen Berichte und stand mit allen hervorragenden Männern des Strafvollzugs in lebhafter Korrespondenz. Meine Aufgabe war, die statistischen Ziffern zu ermitteln, sie auf ihre Zuverlässigkeit zu untersuchen, sie zusammenzustellen, zu vergleichen und dann die Resultate aus ihnen zu ziehen. Das war an und für sich eine sehr schwere, anstrengende und scheinbar langweilige Beschäftigung mit leblosem Ziffernwerk; aber diese Ziffern zu Gestalten zusammenzusetzen und diesen Gestalten Leben und Seele einzuhauchen, ihnen Sprache zu verleihen, das war im höchsten Grad interessant, und ich darf wohl sagen, daß ich da viel, sehr viel gelernt habe und daß mich diese Arbeiten in stiller, einsamer Zelle in Beziehung auf Menschheitspsychologie viel weiter vorwärts gebracht haben, als ich ohne diese Gefangenschaft jemals gekommen wäre. Daß mir hierzu nur die besten und zuverlässigsten Unterlagen zu Gebote standen, versteht sich ganz von selbst. Es sind mir da ganz eigenartige Lichter aufgegangen. Ich habe da in die tiefsten Tiefen des Menschenlebens geschaut und Dinge gesehen, die andere niemals sehen werden, weil sie keine Augen dafür haben. Ich habe da erkannt, daß Großmutters Märchen die Wahrheit sagt, daß es ein Dschinnistan und ein Ardistan gibt, ein ethisches Hochland und ein ethisches Tiefland, und daß die Hauptbewegung, an der wir alle teilzunehmen haben, nicht von oben nach unten geht, sondern von unten nach oben, empor, empor zur Befreiung von der Sünde, hinauf, hinauf zur Edelmenschlichkeit. Diese Erkenntnis ist mir von größtem Segen gewesen; sie hat auch mich selbst befreit. Ich habe die in mir schreienden Stimmen, von denen ich weiter oben sprach, auch in der Zelle vernommen. Ich habe mit ihnen gekämpft und sie stets zum Schweigen gebracht. Sie kehrten zwar zurück; sie ließen sich wieder hören, doch in immer längeren Zwischenräumen, bis ich endlich annehmen konnte, daß sie ganz und für immer stumm geworden seien.
Außerdem hatte ich die Bibliothek der Gefangenen zu verwalten, und auch die Bibliothek der Beamten stand mir offen. Die Werke der letzteren bezogen sich nicht etwa nur auf Strafrecht und auf Strafvollzug, sondern es waren alle Wissenschaften vertreten. Ich habe diese köstlichen, inhaltsreichen Bücher nicht nur gelesen, sondern studiert und sehr viel daraus
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