760 Minuten Angst
kopfnickend zustimmte, nahm er ihn zur Seite. »Ich möchte kurz mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen.«
»Fehlt ihr denn etwas?«, wollte Jake besorgt wissen.
»Rein körperlich gesehen, geht es Ihrer Tochter blendend, Herr Meisner, nur wie es um ihre Psyche bestellt ist, können wir leider noch nicht mit Gewissheit sagen.
Sie reagiert zwar auf sämtliche äußerliche Reize, doch seit ich hier bin, hat sie noch kein einziges Wort gesprochen.«
»Ja, ich weiß. Bei mir auch nicht.«
»Ich verstehe ja, dass Sie nicht mit mir darüber reden wollen und es geht mich auch gar nichts an, aber es ändert nichts an der Tatsache, dass Ihre Tochter einige Anzeichen eines Traumas aufweist. Ich würde Ihnen daher dringend zu einer Therapie raten … und nicht nur für Ihre Tochter.«
»Ich weiß, Doktor. Und … danke.«
Mit diesen Worten ging Jake einfach an dem Arzt vorbei und schenkte ihm keinerlei Beachtung mehr. Als dieser das Krankenzimmer verließ, stand Jake bereits am Bett seiner Tochter und sah zu ihr hinab.
Die Pflegerinnen hatten ihr ein paar Bücher gebracht. In einem las sie gerade. Erst als Jake ihren Namen rief, sah Mira auf. Ohne Worte kroch er zu seiner Tochter ins Krankenbett und legte seinen rechten Arm um sie. Dann drückte er sie fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er würde sie nie wieder loslassen.
06:32 Uhr, das Ende der Angst …
08:52 Uhr, Hoffnung …?
Er klingelte an der Tür und eine Frau Anfang Vierzig öffnete sie. Er kannte sie nicht und sie kannte ihn nicht und doch war es von größter Wichtigkeit, dass sie ihn hereinließ.
»Frau Holzner?«, fragte er höflich und sah ihr dabei tief in die hellgrünen Augen.
»Ja. Und sie sind?«
»Simon Grünau. Tut mir leid, sie schon so früh zu stören, aber ich bin auf der Suche nach Emilie Bauer.«
»Und wer sind Sie gleich nochmal?«
»Sie kennen mich nicht und Sie haben allen Grund dazu, mir zu mistrauen, doch glauben Sie mir, ich komme nicht im Auftrag Ihres Vaters. Ganz im Gegenteil.«
»Woher wissen Sie …«
»Frau Holzner, ich weiß eine ganze Menge und doch kann ich Ihnen nicht mehr sagen, als dass ich zum Wohle Emilies hier bin.«
»Ich verstehe nicht. Was wollen Sie von uns?«
»Nur ein Gespräch mit Emilie. Nicht mehr, nicht weniger. Sie dürfen gerne in der Nähe bleiben, wenn Sie wollen.«
»Ist schon gut«, ertönte es plötzlich außerhalb Simons Sichtfeld.
Frau Holzner trat beiseite und Emilie kam zum Vorschein. Simon sah sie zum ersten Mal. Er erkannte sie sofort an ihren kurzen, blonden Haaren und den besonderen, grünen Augen. Constantin hatte oft von ihr erzählt.
»Hallo, Emilie. Ich weiß, du kennst mich nicht, aber ich habe etwas sehr Wichtiges für dich. Darf ich reinkommen und es dir geben?«
Sie nickte und auch Frau Holzner gab ihr Einverständnis. Wenige Augenblicke später saßen sie bereits im Esszimmer des Hauses. Herr und Frau Holzner waren so nett, die beiden allein zu lassen, auch wenn sie Simon deutlich spüren ließen, dass sie im angrenzenden Wohnzimmer waren und ihm misstrauten. Es störte ihn nicht, solange er Emilie die Nachricht überbringen konnte.
»Wer sind Sie?«, brach Emilie das Eis.
»Simon Grünau. Aber du kennst mich nicht.«
»Aber Sie mich. Woher?«
»Durch einen Freund. Er hat mich darum gebeten, dir heute diesen Brief zu überreichen.«
Simon kramte in seiner Jackeninnentasche und zog einen beigefarbenen Briefumschlag hervor. Darauf stand handschriftlich EMILIE geschrieben.
Er schob den Umschlag zu ihr, ehe er weitersprach.
»Es ist sein Abschiedsgeschenk an dich. Ich würde dich jetzt gerne bitten, ihn zu lesen. Wenn du danach Fragen hast, stehe ich dir gerne Rede und Antwort.«
Emilie nickte.
Sie verstand nicht, was das Ganze bedeutete und wenn man bedachte, was sie letzte Nacht durchmachen musste, dann konnte Emilie selbst nicht begreifen, warum sie Simon vertraute und ohne zu hinterfragen den Umschlag öffnete. Darin befand sich ein ebenfalls beigefarbenes, handbeschriebenes Stück Papier.
Emilie begann zu lesen.
Liebe kleine Emilie,
mein Name ist Constantin Bach und wenn du diesen Brief liest, dann heißt das, dass ich tot bin. Doch dieser Brief soll nicht dazu dienen, Trauer oder Mitleid in dir wachzurufen, ganz im Gegenteil.
Ich möchte dir nur eine Geschichte erzählen.
Ich möchte dir von meiner Verlobten erzählen, die ich über alles geliebt habe. Auch sie ist gestorben, gestern vor genau zwei Jahren. Sie war mit dem Fahrrad auf dem
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