80 Days - Die Farbe der Begierde: Roman (German Edition)
die Parkwege, zogen ihre Tiere hinter sich her oder ließen sich von ihnen ziehen. Eichhörnchen sprangen von Baum zu Baum und wuselten auf den wenigen Grasflächen umher. In der Nordwestecke saßen einige schlecht gekleidete Schachspieler an den Spieltischen oder warteten auf Herausforderer. Keine Musiker heute. Ich setzte mich auf eine Bank und beobachtete das Treiben, hauptsächlich die Kinder. Alles Mögliche schoss mir durch den Kopf, und ich versuchte mir vorzustellen, wie ein normales Leben mit Dominik aussehen könnte. War ein normales Leben für uns überhaupt möglich?
Da ich mein Handy zu Hause gelassen hatte, suchte ich ein öffentliches Telefon. Ich warf ein paar Münzen ein und wählte Cherrys Nummer. Seit wir im Streit auseinandergegangen waren, hatte ich das Gefühl, ihr eine Erklärung schuldig zu sein. Aber unter ihrer Nummer gab es keinen Anschluss mehr. Vielleicht sollte ich am Abend einige der Bars und Clubs abklappern, in denen sie verkehrte.
Schließlich machte ich mich auf den Heimweg.
Ich ging noch mal unter die Dusche, denn da ich mich nach dem winterlichen Neuseeland noch nicht auf die Sommerhitze in Manhattan eingestellt hatte, fühlte ich mich wie gebraten. Anschließend machte ich ein paar Yogaübungen. Der Sonnengruß und der abwärtsgerichtete Hund halfen mir wie immer, einen klareren Kopf zu bekommen. Der Geigenkasten stand in einer Ecke des Lofts neben dem orangefarbenen Sofa, noch genau dort, wo ich ihn bei der Ankunft vor zwei Tagen abgesetzt hatte, einsam und etwas vorwurfsvoll, als würde er darum betteln, dass ich ihn öffne. Mit leichtem Schreck stellte ich fest, dass ich meine Bailly seit sechsunddreißig Stunden nicht mehr angerührt hatte. Der Flug und die zwei faulen Tage in New York mochten das erklären, aber noch nie hatte ich so lange nicht gespielt oder wenigstens Tonleitern geübt. Dabei hatte es mir weder gefehlt, noch war es mir überhaupt aufgefallen.
Dieser Gedanke versetzte mir den nächsten Schrecken, doch dann tröstete ich mich damit, dass ich mich offenbar ändern konnte. Nichts ist für die Ewigkeit. Nicht einmal meine Liebe zur Musik.
Ich ließ die Geige Geige sein und trat an den kleinen Schreibtisch, an dem Dominik oft mit seinem Laptop saß. Den Computer hatte er nach London mitgenommen, und so lagen auf der weitgehend leeren Fläche nur ein paar Bleistifte und Kugelschreiber, einige USB -Sticks, ein schmaler schwarzer Hefter und einige dünne Ordner.
Zerstreut schlug ich einen auf. Er enthielt lediglich lose Blätter, die er in seinem Büro in der Bibliothek ausgedruckt haben musste; im Loft gab es keinen Drucker.
Ich nahm das erste Blatt zur Hand.
Und las die ersten Zeilen.
Ich hatte damit gerechnet, etwas über Paris zu finden, über die Epoche, mit der sich Dominik beschäftigte – Daten, Fakten, Zitate –, aber nicht das.
Es war eine Geschichte.
Die irgendwo in Texas in einer kleinen Stadt spielte, von der ich noch nie gehört hatte. Über eine junge Frau mit feuerrotem Haar.
Neugierig geworden, nahm ich mir die restlichen Blätter, die offenbar den Beginn eines Buchs darstellten, und ließ mich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa nieder. Das war meine Lieblingsposition beim Lesen, auch etwas, das ich schon seit Monaten nicht mehr getan hatte.
Ich fand den mir vertrauten Alltag einer Kleinstadt, mit merkwürdigen Anklängen an das wenige, das ich, soweit ich mich erinnerte, Dominik über meine Kindheit in Neuseeland erzählt hatte. Hier und da war mit Fantasie der Vorlage nachgeholfen worden, wodurch vieles interessanter und sogar ein bisschen exotisch klang, wie durch die Augen eines außenstehenden Betrachters gesehen.
Kaum zu glauben!
Dominik schrieb einen Roman!
Ich überflog das anscheinend noch nicht fertiggestellte Kapitel. Und sah dann rasch auch noch die anderen Ordner an. Nur einer schien weitere Fragmente des Romans zu enthalten. Es waren nicht mehr als vier Seiten, mit großen Leerräumen zwischen den Abschnitten. Elena, die Hauptfigur, war Anfang der Fünfzigerjahre, in jener Epoche also, über die Dominik so viel geforscht hatte, nach Paris gegangen. War die Wahl des Namens Elena für seine Hauptfigur reiner Zufall?
Ehe ich weiterlesen konnte, klingelte es unten an der Tür. Ich ging zur Sprechanlage. Zwar erwartete ich niemanden, aber vielleicht war es Simón, der hoffte, mich daheim anzutreffen. Kurz überlegte ich, ob ich überhaupt reagieren sollte, denn ich wusste nicht genau, ob ich der Konfrontation mit
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