~900 Meine Reise auf dem spanischen Jakobsweg. (German Edition)
schlecht schmecken und sich nur schwer essen lassen. Unnützes Wissen, das sich nicht aus meinen Gedanken verdrängen lässt. Wieso merkt man sich immer das, was einen eigentlich gerade so gar nicht interessiert? Mysterien des Lebens.
19.08.08 dunkle Wolken
Mein Handydisplay leuchtet empfindlich hell auf. 3:56 Uhr zeigen mir die weißen Ziffern an. Mitten in der Nacht. Ich muss wohl doch irgendwann eingeschlafen sein. Ein großer Kerl quetscht sich behutsam in die letzte Lücke des Abteils. Ich habe ihn schon gesehen, er stand bisher stundenlang auf dem Flur, wohl um uns schlafen zu lassen und den Platz zu gewähren, den er nun aus Müdigkeit ausfüllen muss. Ich lächle. Es wird gesagt, dass einem viele Wunder begegnen können auf dem langen Weg durch Spanien. Kleine Wunder, so scheint es mir, passieren wohl auch vorher schon, besonders in der Form ganz ungewöhnlich schöner, sensibler Menschlichkeit.
Ich blinzle noch ein, vielleicht zwei Male, dann bin ich schon wieder in jenem Halbschlaf, der mich die ganze Nacht lang begleiten wird.
Ich vergesse vollkommen auf die Uhr zu achten, als ich müde die eine flache Stufe des Zuges hinunter stolpere und auf den kühlen Steinen gerade noch mein Gleichgewicht wiederfinde. So sehr ich mir vorgenommen habe genaues Tagebuch zu führen, so unmöglich ist es wohl. Meine Gedanken sind jetzt viel zu sehr damit beschäftigt wie ich nun zum nächsten Bahnhof gelange. Für meinen Geschmack hat Paris viel zu viele Bahnhöfe, wo sie genau liegen verstehe ich auch dann nicht, als ich schon fünf Minuten auf eine ausgehängte Straßenkarte starre. Ich reibe mir die Augen und gähne. Dann schleppe ich den Rucksack doch zum Infopoint und frage mit Händen, Füßen und auf Englisch nach dem Weg. Die U-Bahn sei das leichteste, versichert mir man. Dass es auch zu Fuß nur eine kurze Strecke wäre erfahre ich erst viel später und eigentlich ist es mir auch egal. Hauptsache ich komme am richtigen Fleck an und verpasse nicht meinen Zug. Mein Magen grummelt auf dem Weg unter die Erde ein wenig mürrisch vor sich hin, fordert das Recht auf ein richtiges Frühstück. Ich verströste ihn auf später.
Wo genau geht es hier nun weiter?! Ich blicke mich um. Querstraße, Kreuzung, verdammt viele Autos. Und ich habe keine Ahnung wo ich bin. Eine Karte von Paris habe ich nicht. Trotz aller Vorbereitung. Der Magen grummelt immer noch, dieses Mal etwas lauter. Eine große Uhr! Gut, dass alle Bahnhöfe der Welt eine große Uhr an ihrem Äußeren hängen haben. Sonst wäre ich wohl noch eine Stunde verloren durch Paris geirrt.
Schon vor dem ersten Tag meines Jakobsweges erkenne ich deutliche Wegzeichen nur auf den zweiten Blick. Kein gutes Vorzeichen. Immerhin bringe ich so die Zeit herum, die ich auf den nächsten Zug warten muss, versüßt durch ein Baguette mit Schinken. Ich sitze einfach auf dem Boden und nutze die Gelegenheit zu Schreiben. In winziger Schrift, schließlich ahne ich, dass viele Worte folgen werden.
Dennoch: Warten ist schwer. So schnell ein ganzes Jahr an mir vorbeigezogen ist, so langsam vergehen die Sekunden jetzt. Sie scheinen durch klebrigen Honig zu gleiten. Ich lenke mich ab so gut es geht. Ich darf nicht daran denken, dass die Rückreise noch um einiges länger sein wird, andernfalls würde ich wohl schon jetzt die Geduld verlieren. Ich knabbere an den Fingernägeln, die merklich kürzer geworden sind in den letzten Wochen.
„Naaaa, Jakobsweg?!“
Ich schaue auf meine Schuhe, meinen Rucksack und nicke nur lächelnd. Pilger zu erkennen ist nicht sonderlich schwer. Der Kleidungsstil ist doch sehr ähnlich, denke ich mir, als ich die ersten zukünftigen Weggefährten im Zug antreffe. „Ich gehe bald in Rente“ erzählt mir Fritz. Seine Augen sind traurig, als wenn er nicht wüsste, wie er über sich selbst zu denken habe. „Ich weiß nicht genau was ich dann tun soll“ beichtet er mit einem Lächeln auf den Lippen. Eine Mischung aus Melancholie und Vorfreude. Ich sehe sie in vielen Gesichtern, auch wenn ich nicht jede Geschichte dahinter erfahre. Fritz will ein neues Leben planen. Schritt für Schritt. Ich muss erst einmal finden was mich ausmacht, wenn überhaupt etwas da ist, unter dem riesen Haufen an Worten, der in mir ruht.
In meinen Gedanken, in meiner Welt, ist eine Ewigkeit vergangen. Ein lautes Quietschen, der Zug rollt langsam aus. Saint-Jean-Pied-de-Port . Das Tor zum Pass der Pyrenäen. Die Kulisse jedoch kann ich gerade nicht genießen.
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