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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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Passant dokumentierte die Szene mit seinem Handy und stellte den Clip ins Internet. Daraufhin wurde ›Zhang Gang ist mein Vater‹ zum geflügelten Wort.«
    Treffende Beispiele dafür, was derzeit in China vor sich ging, dachte Chen. Aber was bedeutete das für die Gesellschaft?
    Für die Regierung hatte »Stabilität« oberste Priorität. Es hieß, der durch den Reformprozess erzielte wirtschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt sei nur auf der Basis von Stabilität möglich. Doch trotz gezielter Maßnahmen der Parteiorgane gegen sogenannte instabile Faktoren ließ sich die Stabilität immer schwerer gewährleisten.
    Auf dem Podium kam Professor Yao nun zu seinem Fazit.
    »In Zeiten, da die Regierung sich mit ihrer Legitimation immer schwerer tut und die ideologischen Grundlagen der Partei an Bedeutung zu verlieren drohen, versuche ich als Jurist, entgegen aller Hoffnung, an der letzten Verteidigungslinie für unsere künftige Gesellschaft festzuhalten, an einem wahrhaft unabhängigen Rechtssystem.«
    Chen klatschte, doch seine Brauen zogen sich enger zusammen. Ein solcher Vortrag war für die Ohren eines Polizeibeamten nicht gerade angenehm. Dennoch saß er lieber hier als mit Parteisekretär Li Guohua und den anderen Kollegen in einer politischen Routinesitzung.
    Li, der führende Parteigenosse im Präsidium, näherte sich allmählich dem Pensionsalter, und Chen war als sein Nachfolger gehandelt worden. Doch aus irgendwelchen Gründen hatte man Li für weitere zwei Jahre in seinem Amt bestätigt. Als Ausgleich war Chen zum ersten Vizeparteisekretär der Behörde ernannt und ins Shanghaier Komitee der Kommunistischen Partei Chinas berufen worden.
    Für einen Außenstehenden sah das nach einer Beförderung aus, was es angesichts der realen Machtstrukturen aber keineswegs war. Einige führende Parteigenossen der Stadtregierung wollten ihn offenbar nicht in einer Schlüsselposition an der Spitze der Behörde sehen, da sie ihn für einen von denen hielten, die auf der anderen Seite stehen.
    Die Veranstaltung des Schriftstellerverbands bot ihm eine willkommene Entschuldigung, sich vor der dienstäglichen Routinesitzung zu drücken. Parteisekretär Lis abgedroschene Phrasen aus der Parteizeitung nervten ihn zunehmend.
    Der verebbende Applaus holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Nun würde eine Diskussion folgen, und im Anschluss fände die vor Wochen für heute angesetzte Vorstandssitzung statt.
    Chen verließ den Konferenzsaal und trat in den von Mauern umschlossenen Garten. Die Villa hatte ein reicher Geschäftsmann in den Dreißigerjahren errichten lassen, 1949 war sie dann von der Partei beschlagnahmt worden. Schon seit vielen Jahren residierte dort nun der Schriftstellerverband.
    Hinter einem kleinen Teich blieb Chen stehen und betrachtete den weißen Marmorengel, der in der Mitte posierte. Wie durch ein Wunder hatte die Statue die Kulturrevolution unbeschadet überstanden.
    Es war das Verdienst des Alten Bao gewesen, des Pförtners des Schriftstellerverbands. Als einfacher Arbeiter galt er als »politisch zuverlässig« und genoss in jenen Tagen das Vertrauen der Roten Garden und Rebellen. In einer dunklen Nacht hatte er heimlich die Statue auf seinem Lastenfahrrad zu sich nach Hause gebracht und unter dem Bett versteckt. Als tags darauf die Roten Garden auftauchten, um alles »Bourgeoise und Dekadente« zu zerschlagen, stand die nackte Statue ganz oben auf ihrer Liste, aber sie war auf unerklärliche Weise verschwunden. Die Garden verhörten jeden, außer den Alten Bao, der ja eine rote Armbinde trug und die revolutionären Slogans lauter brüllte als jeder andere. Das Verschwinden der Statue blieb ein Rätsel, bis sie der Alte Bao nach dem Ende der Kulturrevolution an ihren ursprünglichen Standort im Garten des Schriftstellerverbands zurückbrachte. Auf die Frage, warum er ein solches Risiko eingegangen war, antwortete er schlicht, dass es zu seinen Pflichten als Pförtner gehöre, das Inventar des Gebäudes vor Schaden und Zerstörung zu bewahren.
    Als Chen aufsah, erblickte er einen Mann, der ihm vom Pförtnerhäuschen aus zuwinkte, wo jeder Besucher sich anmelden musste. Es war der Kleine Bao, einziger Sohn des Alten Bao. Als der alte Herr Mitte der Neunzigerjahre in Rente ging, war sein Sohn gerade arbeitslos und konnte dank Chens Fürsprache den Posten seines Vaters übernehmen. Nun saß er also mit einem Becher Tee im selben Häuschen und verwaltete das Besucherbuch, das inzwischen allerdings

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