99 Särge: Roman (German Edition)
bitten.«
Sie überreichte ihre Visitenkarte, die sie als Leitende Finanzjournalistin auswies.
Interessant. Ein solcher Titel war Chen auf einer Visitenkarte noch nie untergekommen. Dennoch empfand er ihr Angebot als durchaus schmeichelhaft.
»Yaqing ist im Mutterschaftsurlaub, deshalb betreue ich die Literaturseite vorübergehend mit.« Und dann fügte sie noch hinzu: »Bitte, Oberinspektor Chen, schicken Sie mir einige Ihrer Gedichte.«
»Natürlich, gern, vorausgesetzt, ich finde die Zeit dazu.«
In einer Tageszeitung war Lyrik heutzutage nicht mehr als ein Strauß Plastikblumen, der in der Ecke einer Neureichenwohnung verstaubte. Kaum jemand beachtete sie.
Wie als Erwiderung auf den Ruf der Zikade begann sein Handy zu zirpen. An der Nummer erkannte er, dass der Anruf von Parteisekretär Li kam.
Chen entschuldigte sich bei den beiden Frauen und trat in den Schatten eines blühenden Birnbaums. Er klappte sein Mobiltelefon auf und hörte erregte Stimmen aus dem Hintergrund. Li war offenbar nicht allein in seinem Büro.
»Kommen Sie sofort ins Präsidium, Oberinspektor Chen. Wir halten gerade eine Krisensitzung ab. Liao und Wei sind bei mir.«
Inspektor Liao war Leiter der Mordkommission, und sein Assistent, Hauptwachtmeister Wei, war ein langgedienter Polizeimeister, der etwa zur selben Zeit in den Polizeidienst eingetreten war wie Chen.
»Ich nehme derzeit an einer Sitzung des Schriftstellerverbands teil, Parteisekretär Li.«
»Ihre Vielseitigkeit in Ehren, Dichter Chen, aber hier handelt es sich um einen sehr speziellen Fall.«
Chen erkannte einen leichten Sarkasmus in Lis Tonfall, und ein »sehr spezieller Fall« war ein gängiges Klischee aus dem Mund des Parteisekretärs. Früher war Li eine Art Mentor für Chen gewesen, nun aber betrachtete er den Oberinspektor immer stärker als Rivalen.
»Was für ein Fall?«
»Zhou Keng hat sich umgebracht – ausgerechnet in der Villa Moller.«
»Zhou Keng? Ist mir nicht bekannt.«
»Sie haben noch nie von Zhou Keng gehört?«
»Der Name klingt vertraut, aber es tut mir leid, ich weiß nichts über ihn.«
»Dann müssen Sie in letzter Zeit sehr mit Ihrer Lyrik beschäftigt gewesen sein, Oberinspektor Chen. Ich stelle den Lautsprecher an, Hauptwachtmeister Wei wird Ihnen mehr darüber berichten.«
»Zhou Keng war Direktor der Shanghaier Behörde für Wohnungsbauentwicklung«, begann Wei mit sonorer Stimme. »Vor etwa zwei Wochen wurde er Zielscheibe einer sogenannten Menschenfleischsuche im Internet, bei der ihm von Netzbürgern Korruption nachgewiesen werden konnte. Daraufhin wurde er ›extralegal‹ in einem Hotel festgesetzt, wo er sich vergangene Nacht erhängt hat.«
Shuanggui , also das extralegale Festsetzen missliebiger höherer Kader zwecks Befragung durch die Disziplinarbehörde an unbekanntem Ort auf unbestimmte Zeit, war ebenfalls ein Merkmal des Sozialismus chinesischer Prägung und als Maßnahme gegen die unkontrollierbare Korruption im Einparteiensystem entwickelt worden. Wörtlich übersetzt hieß shuang-gui »zweierlei Bestimmungen« und bedeutete, dass ein der Korruption oder eines anderen Verbrechens verdächtigter Parteikader an einen bestimmten Ort ( shuang ) auf bestimmte Zeit ( gui ) für Ermittlungen seitens der Partei interniert werden konnte. Obwohl die chinesische Verfassung in einem Gesetz, das vom Nationalen Volkskongress ratifiziert worden war, für jede Form von Internierung eine rechtliche Grundlage forderte, gehörte das willkürliche Festsetzen ohne zeitliche Begrenzung mittlerweile zur gängigen Praxis. Hohe Parteikader verschwanden immer wieder von der Bildfläche, ohne dass Polizei oder Medien von ihrem Aufenthaltsort wussten. Offiziell hieß es, dass Beamte, die in die juristische Grauzone des shuanggui geraten waren, sich jederzeit für eine Untersuchung durch die Partei bereitzuhalten hätten und anschließend wieder auf freien Fuß gesetzt würden. In der Praxis aber wurden sie nicht selten Monate oder gar Jahre festgehalten, ehe sie den staatlichen Ermittlungsbehörden überantwortet wurden und sich einem von vornherein entschiedenen Strafverfahren stellen mussten. Die Behörden betrachteten shuanggui als ein konstitutives Element der Rechtsprechung und nicht etwa als Perversion derselben. Mehr noch, durch shuang-gui konnte man vermeiden, dass die schmutzigen Details einer Bestechungsaffäre an die Öffentlichkeit gelangten und so dem Bild der Partei schadeten, überlegte Chen. Alles blieb unter der strikten
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