999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
und begann, vorsichtig zu ziehen. Der Arzt steckte seine Hand in Elenas Vagina und versuchte, das Kind zu drehen, um es mit dem Kopf voran herauszuholen. Es gelang ihm jedoch nicht. Zusammen mit den Füßen erschien ein weiteres Stück Nabelschnur. Dann kam der Hintern und am Schluss der Kopf, der wie eine deformierte Quitte aussah. Endlich entspannte sich das vor Anstrengung gezeichnete Gesicht Elenas. Der Arzt durchtrennte die Nabelschnur und atmete aus.
»Es ist ein Junge«, sagte Schwester Camilla, verschwitzt und erschöpft, aber glücklich.
»Ja«, sagte der Arzt und setzte sich auf den Bettrand, »aber er atmet nicht.«
Schwester Camilla betrachtete den kleinen wehrlosen Wurm, der auf einem weißen Laken lag, das ihr nun wie ein Leichentuch erschien. Sie drehte sich zu dem Arzt um und begann weinend, ihn zu schlagen.
»Tun Sie etwas! Um Gottes Willen, so tun Sie doch etwas!«, kreischte sie in Panik.
Von den Schreien geweckt, öffnete Elena die Augen und betrachtete verständnislos die Szene.
»Schon gut, schon gut«, schrie der Mediziner dann und erhob sich von dem Bett. »Lassen Sie es mich versuchen!«
Er nahm das Neugeborene in beide Hände, kämpfte kurz mit dem Ekel vor all dem Blut und dem Schleim, legte seine Lippen auf die des Kindes und versuchte, ihm Sauerstoff einzuhauchen.
»Die Nase!«, schrie Schwester Camilla. »Halten Sie ihm die Nase zu!«
Der Arzt folgte ihrer Anweisung und blies weiter.
»Es ist sinnlos«, sagte er, »es ist tot.«
Camilla riss es ihm aus den Händen und wiederholte den Vorgang. Dreimal blies sie dem Neugeborenen Luft in den Mund, aber das Kind zeigte keinerlei Reaktion. Verzweifelt versuchte sie es mit aller Kraft erneut und betete im Geiste ein Angelo Custode . Als sie es auf das Bett zurücklegen wollte, drehte das Kind den Kopf.
»Geben Sie es mir!«, befahl der Arzt.
Er packte das Kind an den Beinen, hielt es für einen Moment mit dem Kopf nach unten und gab ihm dabei kleine Klapse auf den Rücken. Da geschah das Wunder: Das Kind schrie aus vollem Hals.
»Es lebt! Es lebt!«, rief Schwester Camilla. Außer sich vor Freude, umarmte sie den Arzt und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Geben wir ihn der Mutter, jetzt.«
»Zuerst säubern wir ihn – er hat uns ja ganz schön zugerichtet. Sehen Sie nur hier.«
Der Arzt deutete auf sein Hemd, das voller Blut war.
»Ach, Doktor, was ist das schon! Ziehen Sie es aus, ich werde es gleich zum Waschen bringen. Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann«, sagte sie hektisch. »… und entschuldigen Sie wegen vorhin.«
»Ach lassen Sie, ich kann zwar nicht behaupten, dass ich so etwas alle Tage erlebe, aber das ist eben unser Berufsrisiko«, sagte er lächelnd.
Das Kind wurde gesäubert und in ein weiches Handtuch gewickelt. Dann legten sie es vorsichtig auf Elenas Brust: Sie schien es in ihrer Erschöpfung jedoch gar nicht zu bemerken. Der Arzt fühlte ihr den Puls, er war schnell und unregelmäßig, und zu Camillas Entsetzen waren Elenas Gesicht und Hände stellenweise bläulich angelaufen. Er deckte sie vorsichtig mit einer Decke zu.
»Ich kann nicht viel für sie tun«, sagte er. »Es wäre besser, einen Arzt – ich meine, einen anderen – zu rufen. Ich kenne mich mit Kindern aus, aber diese Frau gefällt mir gar nicht.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will sagen, dass die Plazenta zu dunkel ist. Es kann in den nächsten Stunden zu starken Blutverlusten kommen. Diese Frau hat sehr gelitten und könnte innere Blutungen haben. Schauen Sie sich ihr Gesicht an.«
»Aber sie hat gerade erst eine Geburt hinter sich gebracht!«
»Danke, Schwester, das weiß ich auch. Deshalb sage ich es ja. Wir brauchen einen Arzt, einen Spezialisten für innere Medizin. Wir dürfen auf keinen Fall noch mehr Zeit verlieren.«
Kaum eine Stunde später wurde das Kind zum ersten Mal von Elena gestillt, die eine Weile durchhielt, dann jedoch ohnmächtig wurde. Als sie wieder erwachte, war sie blass und schwach. Schwester Camilla brachte ihr eine heiße Hühnersuppe, von der sie kaum etwas anrührte.
Am nächsten Morgen erschien der Internist im Konvent. Er begrüßte die Schwestern, die ihm wie aufgeregte Hühner entgegenkamen, überschwänglich. Dann zog Camilla ihn energisch in Elenas Zimmer. Der Arzt hörte ihr den Rücken ab, untersuchte ihre Iris, kontrollierte den flachen und schnellen Puls und maß Fieber, das sehr hoch war, obwohl Elena die ganze Nacht und den Morgen stark geschwitzt hatte. Sie habe
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