999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
spürte ich, wie mich die erzählte Geschichte zu verändern begann. Leider weiß ich nun, dass meine Familie seit Jahrhunderten in ein dunkles Geheimnis verwickelt ist, das sie zum Täter und zum Opfer gleichermaßen machte. Dieses schreckliche, unsägliche Geheimnis nimmt seinen Ursprung vor vielen hundert Jahren und in solch mächtigen Ereignissen, dass die Aufdeckung des Mysteriums durch treulosen Verrat unsere ganze Welt zerstören könnte. Wäre es bereits damals ans Licht gekommen, hätte die Geschichte unseres Abendlandes einen ganz anderen Verlauf genommen (ob zum Besseren oder nicht, sei dahingestellt), doch heute ist die Gefahr umso größer. Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich keine Beweise, ob und wie viel Wahres in meiner Erzählung steckt. Ich weiß nicht einmal, ob das Schriftstück von meinem Großvater selbst oder von einer ihm nahestehenden Person verfasst wurde. Doch angesichts der gewaltigen Aufgabe, die vor mir liegt, muss mein Sinn nach Höherem gerichtet sein. Ich allein trage die Bürde der Verantwortung, die Geschichte meiner Familie wahrheitsgemäß niederzuschreiben. Und ich nehme dieses Vermächtnis meines Vorfahren freudig an, als letzter Nachkomme auch das mit diesem Geheimnis verbundene Rätsel endgültig zu lösen. Wenngleich ich Angst habe, dass nichts mehr so sein wird wie vorher, wenn ich das Geheimnis erst einmal gelüftet habe.
Der letzte Wächter
Zwischen Arezzo und Chiusi
Montag, 1. Mai 1486
Auf der antiken Via Cassia, die durch das Val-di-Chiana-Tal die Städte Arezzo und Chiusi miteinander verbindet, galoppierte ein Trupp bewaffneter Männer. Das Fell der Pferde glänzte schweißnass und leuchtete unheimlich im Schein der Eisenfackeln, die die Reiter in den Händen hielten. In dieser Neumondnacht hätte jeder, der ihnen begegnet wäre, sie für eine Rotte Dämonen gehalten, die gekommen war, um die alten Wirtshäuser zu verbrennen, die den Reisenden seit Jahrhunderten Schutz gewährten.
Ein selbstsicherer Mann führte die Gruppe an. Er trug einen leichten Mantel und ein dickes, erlesen gearbeitetes Lederwams. Sein Reitstil war schwerfällig und angestrengt, aber er ritt mit einer Entschlossenheit, die ihn den anderen bei weitem überlegen machte. Sobald das Pferd versuchte, den unerbittlichen Rhythmus des Galopps zu durchbrechen , schlug er ihm seine Sporen in die bereits blutigen Flanken. Seit einigen Stunden wagte niemand mehr, ihn anzusprechen. Giuliano Mariotto de’ Medici, Erster Steuereintreiber Arezzos, wurde von dunklen Gedanken heimgesucht, und er gab ihnen nur allzu bereitwillig nach. Er brütete über Racheplänen und dachte beinahe wollüstig an die Bestrafung von seiner Frau und ihrem Liebhaber. Beide waren sie des Ehebruchs schuldig und hatten seine Ehre zutiefst befleckt. Obwohl niemand in seiner Gegenwart den Mut hatte, darüber zu sprechen, wusste er nur allzu gut, dass ihre Flucht Gesprächsthema in den Werkstätten ihrer toskanischen Heimatstadt geworden war. Bald würde die Nachricht Florenz erreichen und den gesamten Hof Lorenzos des Prächtigen erheitern .
Ein Reiter mit einer federbesetzten Kappe und einem dunklen Harnisch beschleunigte seinen Ritt, um zu seinem Herrn aufzuschließen: Im Gegensatz zu diesem war seine militärische Haltung unverkennbar, und durch seinen deutschen Akzent wirkte er nur umso bedrohlicher.
»Herr, die Spuren werden immer frischer – nun haben wir sie. Selbst wenn sie nicht Rast gemacht hätten, wären sie uns früher oder später in die Hände gefallen. Die beiden haben jetzt nicht mehr als ein, zwei Stunden Vorsprung. Allerdings werden unsere Pferde müde und könnten vielleicht ein bisschen Ruhe brauchen.«
»Die einzige Ruhe, die ich heute Nacht jemandem gewähren werde, ist für den, der mich beleidigt hat!« Giuliano verlangsamte nicht einmal seinen Schritt. »Du erstaunst mich, Ulrich, du wirst doch nicht etwa herzweich?«
Die Grimasse auf Giulianos Gesicht gefiel Ulrich von Bern gar nicht. Der Schweizer Söldner, der Gardekommandant des Steuereintreibers, hatte schon für wesentlich weniger getötet. Eigentlich wäre er Giuliano de’ Medici vertragsgemäß noch weitere zwei Jahre zum Dienst verpflichtet gewesen. Und eigentlich brach er keine Verträge – sofern er weiterhin seinen Sold bekam wenigstens. In seinem Inneren dachte er, dass Margherita, die Frau seines Herrn, gut daran getan hatte, ihm ein schönes Paar Hörner aufzusetzen.
»Wie Ihr wollt, mein Herr. Ich werde also die anderen anhalten,
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