Aasgeier
Abwesenheit noch immer am besten kannte. Ich fuhr hinunter nach Striker Beach.
Meinen Sohn hatte ich viel zu lange nicht gesehen. Meine Mutter auch nicht, obwohl sich das eher verschmerzen ließ. Außerdem brauchte ich neben Ruhe auch die Anbindung ans Kommunikationsnetz, und damit haperte es bei Zorbian und Bobbys Versteck genau wie bei Ignacio. Zurück zu den Gonzales konnte ich nicht, jedenfalls nicht, solange ich nicht wusste, wer die Schießer waren und wem die Schießerei galt. Die machten mir Sorgen; man stellt sich doch vor, dass ein Überfall nach Plan abläuft, und nicht so amateurhaft wie auf dem Hof der undurchsichtigen Familie Gonzales, die ihre Finger in vielen Töpfen zu haben schien.
Außerdem hatte ich die Schnauze voll vom Weglaufen. Ich wollte endlich mal irgendwo sesshaft sein, mich irgendwo für ein paar Wochen niederlassen und mich dort um meine Zukunft kümmern. Also, dachte ich, gehst hin, wo sie dich sicher nicht vermuten. Nach Pismo, nach Striker oder Avila.
Von unterwegs rief ich mein Mütterchen an. Die ließ fast den Hörer fallen, als sie schnallte, dass ihr Einziger nach vierwöchigem Schweigen am anderen Ende war. Aber vorsichtig war sie ja gottseidank, die Witwe des ewig besoffenen, ewig herumvögelnden Dr. Gutman, der sich scherzhaft Dr. Betterman nannte. Tat, als sei ich einer dieser Nachbarschaftsparias, die immer dann anrufen, wenn das Essen gerade auf dem Tisch steht.
„Ich wollte gerade essen", antwortete sie auf meine vorsichtige Frage, ob sie Frau Gutman sei. „Verstehe – ich will Sie auch nicht stören ...“ setzte ich an, aber da war sie schon auf achtzig. „Hören Sie, lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe Ihnen doch schon oft gesagt, Sie sollen mich nicht anrufen. Wenn Sie was wollen, kommen sie nachher schnell vorbei, wenn ich gegessen und abgeräumt habe.“ Knallte den Hörer auf die Gabel. Mein Mütterchen. Man sollte meinen, sie entstammt einer traditionsreichen Verbrecherfamilie. Sehr auf Zack.
Also fuhr ich erst mal bei Wong vorbei, aber der war natürlich nicht im Laden. Wäre auch ein Wunder. Ich kaufte im WaldMart noch schnell einiges ein, weil ich ohnehin in San Luis war. Lebensmittel, Computerpapier, Spielzeug für meinen kleinen Hijo, meinen mehr mexikanischen als amerikanischen Sohn und neue Allzweckklamotten für den Kleinen und mich. Jeans, Pullover, Hemden, Jacken, Unterhosen und Socken sind die Sachen, von denen man nie genug haben kann, und ich wollte sicher sein, dass wir gut ausgerüstet dorthin gingen, wohin es uns verschlagen würde. Entweder zusammen oder ich allein. Keine Ahnung. Mir schien der Tag als Neubeginn, als ein Tag, an dem ich erneut anfangen könnte. Wenn man bis zum Hals in Scheiße steckt, ist das ein ziemlich optimistischer Ausblick, würde ich sagen. Sind Hopfen und Malz doch noch nicht verloren.
Um sieben fing die offizielle Knallerei am Strand an, der Auftakt des großen Freiluftfestivals mit Blaskapellen, leichtem Feuerwerk und allerlei Fliegendem. Ich sah schon vom Freeway aus, wie spät es war. Meinen Jeep stellte ich ans dunkle Ende des Mallparkplatzes und klopfte fünf Minuten später bei Mütterchen an die Küchentür. Ricky schoss wie ein geölter Blitz auf mich zu – ich sah ihn durchs Türfenster ankommen, konnte gerade noch meine Einkaufstüten abstellen und die Tür aufreißen, und schon hing er mir am Hals. Mir brach fast das Herz.
Mutter freute sich, was mich doch leicht verwunderte. Ich saß mit den beiden am Küchentisch, schaufelte Freiheitswürstchen und Patriotenbohnen in mich hinein, trank Cola aus rot-weiß-blauem Festtagsglas und hörte pro Ohr einen Bericht. Links erzählte Ricky, was er alles gemacht hatte, rechts wollte seine Oma mir erzählen, was für ein schlaues Kind er doch sei und was er alles kann, aber das wusste ich ja, also redeten wir drei gleichzeitig, ich zwischen Schlucken, und keiner wusste so recht, was die anderen erzählten. Ein richtiges Familien-Wiedersehen.
Mein Sohn sprach englisch wie einer, der Pismo Beach noch nie verlassen hatte. Ein Wunder. Wenn auch die ganze Scheiße, in der ich steckte, nichts brachte, war das wenigstens eine Riesenfreude. Konnten wir uns zweisprachig verarschen.
Er hörte nicht auf, zu strahlen. Schaute mich dauernd an und leuchtete richtig. Ich musste ihn immer wieder in den Arm nehmen und kräftig drücken, damit wir beide wussten, dass wir wirklich wieder zusammen waren.
„Ricky und ich waren eine Woche in Las
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