Abaddons Tor: Roman (German Edition)
drehte den Ton herunter und sah eine Weile zu, wie sie stumm gestikulierten.
Er hatte Monate gebraucht, um die Flugbahn der Y Que zu planen und den Zeitpunkt zu finden, an dem Jupiter, Europa und Saturn an den richtigen Positionen standen. Das Fenster war so schmal, dass man es damit vergleichen konnte, aus einem halben Kilometer Entfernung mit einem Wurfpfeil den Flügel einer Fruchtfliege zu treffen. Europa war der Trick gewesen. Ein enger Vorbeiflug am Jupitermond, dann so nahe an den Gasriesen heran, dass er beinahe abstürzte. Schließlich wieder hinaus, ein langer Vorbeiflug am Saturn, um dank dessen Schwerkraft stark zu beschleunigen, und noch weiter hinaus in die Schwärze, zwar ohne erneute Beschleunigung, aber viel schneller, als man es einem kleinen umgebauten Felsenhüpfer je zugetraut hätte. Millionen Kilometer weit durchs Vakuum, um ein Ziel zu treffen, das kleiner war als das Arschloch einer Mücke.
Néo stellte sich die Mienen der Besatzungen auf all den Militäreinheiten und Forschungsschiffen vor, die am Ring stationiert waren, wenn ein kleines Schiff ohne Transponder mit ballistischer Geschwindigkeit aus dem Nichts auftauchte und mit hundertfünfzigtausend Kilometern pro Stunde durch den Ring schoss. Danach musste er sich beeilen. Er hatte nicht genügend Treibstoff, um die hohe Geschwindigkeit aufzuheben, konnte aber weit genug abbremsen, damit sie ihm ein Rettungsschiff schicken konnten.
Natürlich würde er eine Weile im Bau sitzen, das war klar. Vielleicht zwei Jahre, wenn die Richter wirklich sauer waren. Aber das war es ihm wert. Allein die Kommentare im schwarzen Netz wären es wert, wo alle seine Freunde den Flug verfolgten und im Chor riefen: »Heilige Scheiße, der schafft das wirklich!« Er würde Geschichte schreiben. In hundert Jahren würden die Menschen immer noch über den größten und mutigsten Slingshot aller Zeiten reden. Er hatte Monate damit zugebracht, die Y Que zu bauen, und noch mehr Zeit im Anflug, und anschließend würde er im Gefängnis sitzen. Aber das war es ihm wert. Er würde unsterblich werden.
Noch zwanzig Stunden.
Die größte Gefahr stellte die Flottille dar, die den Ring umstellt hatte. Erde und Mars hatten vor einigen Monaten gegenseitig ihre Raumschiffe zu Schrott geschossen, aber was noch übrig war, belagerte jetzt das Objekt. Einige Einheiten mochten auch noch bei den inneren Planeten stationiert sein, aber das kümmerte Néo nicht. Jedenfalls belauerten sich dort draußen zwanzig oder dreißig große Militäreinheiten, während alle verfügbaren Forschungsschiffe des Systems ein paar Tausend Kilometer entfernt sachte dahintrieben, spähten und lauschten. Die militärische Kraftprotzerei sollte vor allem dafür sorgen, dass niemand die Finger nach dem Ding ausstreckte. Sie hatten alle miteinander Angst. Obwohl in diesem kleinen Winkel des Weltraums so viel Metall und Keramik versammelt waren und obwohl der Innendurchmesser des Rings lediglich tausend Kilometer betrug, war die Wahrscheinlichkeit, dass Néo mit irgendetwas zusammenstieß, verschwindend gering. Das Nichts war viel größer als das Etwas. Und falls er wirklich gegen ein Militärschiff prallte, würde er sowieso nicht überleben und musste sich keine Sorgen mehr machen, also überließ er sein Schicksal der Heiligen Jungfrau und richtete die Hochgeschwindigkeitskamera ein. Wenn es endlich so weit war, würde er so schnell fliegen, dass er erst nach einer Analyse der Daten erfahren würde, ob er das Ziel getroffen hatte. Er wollte dafür sorgen, dass es auf jeden Fall eine Aufnahme gab. Nun war es Zeit, die Sender wieder einzuschalten.
»Hoy«, sagte er in die Kamera. »Néo hier. Néo solo. Kapitän und Crew des souveränen Gürtelrennboots Y Que . Mielista me. Noch sechs Stunden bis zum größten Hammer, seit Gott den Menschen erschaffen hat. Es pa mi mama, die Süße Sophia Brun, und Jesus unseren Herrn und Erlöser. Passt gut auf. Ein Blinzeln, und ihr habt es verpasst, que sa?«
Er sah sich die Aufzeichnung an. Sie sah beschissen aus. Wahrscheinlich hatte er noch genug Zeit, um sich den kleinen Schnauzbart abzurasieren und die Haare etwas zurückzubinden. Jetzt wünschte er, er hätte seine täglichen Übungen nicht aufgegeben und sähe nicht so mickrig aus. Dazu war es leider zu spät. Wenigstens konnte er den Blickwinkel der Kamera verändern. Er flog mit ballistischer Geschwindigkeit. Um künstliche Schwerkraft musste er sich nicht sorgen.
Er versuchte es aus zwei anderen
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