Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
mitgerissen, hatte sie durch all die Jahre getragen. Hatte sie sogar Bündnisse mit Regierungen und Militärs schließen lassen, nur um die gemeinsame Forschung zu dem einen guten Ziel zu bringen: der Eliminierung des Bösen. Und dann war Bill vor fünf Jahren mit seiner kleinen Cessna in den kalten Februarmorgen zu einem Kongress nach Stockholm aufgebrochen und niemals dort angekommen. Vier Tage hatten Rettungsmannschaften die Ostsee abgesucht. Schließlich hatten sie Wrackteile der Cessna gefunden, doch Bills Leiche blieb für immer in den Tiefen des kalten Meeres verschwunden.
Greta verbat sich Trauer.
Auch weil es sie daran erinnert hätte, dass sie an jenem Tag im Streit auseinandergegangen waren. Nein. Sie war stolz. Sie wusste, dass sie mithilfe von Edda, Linus und Simon ihr Ziel erreichen würden. Und mit der Forschung an Maries Gehirn und ihren Erinnerungen würde sie einen weiteren Schritt zu einer besseren Welt machen. Greta senkte den Blick und blätterte noch einmal durch die Akten. Wie in einem Forschungs-Tagebuch waren dort die Erlebnisse der drei akribisch aufgelistet, seit sie den Teufelsberg verlassen hatten. Manche Ereignisse waren sogar mit der exakten Uhrzeit notiert. Der für Simon so schreckliche Moment auf den Gleisen war genauso vermerkt wie Eddas Kontakt-
aufnahme mit Thorben und Linus’ Stunden in der Bibliothek und den Stadtwerken. Wichtiger aber noch war für Greta die Erkenntnis, dass sie mit ihrer Vermutung recht behalten hatte: Die Freundschaft der Kinder zueinander, ihre Empathie füreinander, war das Element, das all die Wissenschaftler von GENE-SYS , selbst Bill bei seinen Berechnungen für das Entstehen der Kritischen Masse, nicht bedacht hatten. Und wenn sich etwas in der Zeit seit ihrem Kennenlernen im Camp bewährt hatte, dann war es die Freundschaft der drei Jugendlichen. Vielleicht ist sie der Faktor, der den Menschen vom Tier unterschied, dachte Greta. Freundschaft nicht aus Not oder Angst, sondern aus einem höheren Grund. Einem Grund, der den Menschen erhob zu dem, was er eigentlich seinem Wesen nach war: ein Ebenbild der Schöpfung.
Auch wenn die Leiter der anderen GENE-SYS- Headquarter in Boston, S ã o Paulo, Moskau und Kyoto es nicht glauben wollten, Greta hatte es mit ihrem genialen Schachzug bewiesen. Sie hatte die Freundschaft auf die Probe gestellt, hatte behauptet, Linus aus dem Bund eliminieren zu wollen. Edda und Simon hatten für ihren Freund auf die faszinierende Zukunft verzichtet und sich für Linus entschieden. Greta war gerührt. Stolz hatte sie empfunden. Und ganz tief in ihrem Inneren auch einen Stich. Neid. Weil sie nie in ihrem Leben dieses starke Gefühl der Empathie erlebt hatte. Selbst ihre Gefühle für Bill waren keine Liebe gewesen, nicht von ihrer Seite. Sie hatte Achtung vor ihm gehabt. Respekt. Vor seinem Elan, seiner Bereitschaft, seinen Visionen zu folgen. Bill war ein großartiger Mitstreiter gewesen. Aber Freunde? Niemals hatte Greta wirkliche Freunde gehabt in ihrem Leben, vielleicht war sie als Kind zu lange ans Bett gefesselt gewesen. Bis Carl Bernikoff aufgetaucht war.
Egal, das alles jetzt. Greta wusste, dass sie das Beste aus ihrem Leben gemacht hatte. Und nun, da es sich dem Ende zuneigte, wollte sie den Menschen das Beste hinterlassen. Dazu war es unabdingbar, dass Edda, Linus und Simon nichts geschah. Deshalb beunruhigte sie die Situation, die sich da jetzt anbahnte.
„Sie kommen durch die Kloake“, schmatzte die Frau mit dem Kaugummi. Ihr machte das alles keine Sorgen. Aber Greta. Denn Greta hatte eben alles im Blick. Sorgen machte ihr, dass Linus bei seinem Plan, Marie zu befreien, offenbar alles bedacht hatte. Alles – bis auf die aktuelle Wetterlage.
| 2104 |
Edda, Linus und Simon hatten den Abwasserkanal erreicht und bewegten sich nun parallel dazu auf einem erhöht verlaufenden Steg Richtung Nordwesten. Das Licht von Simons Taschenlampe erfasste Edda für einen Augenblick. Wie bleich sie war. In den letzten Tagen hatte er sich immer mehr als Außenseiter des Trios empfunden. Linus hatte die Planung übernommen und Edda war ständig an seiner Seite gewesen. Simon hatte die wachsende Nähe zwischen den beiden beobachtet. Zu spüren, wie sie sich näher- und näherkamen, tat ihm weh. Er spürte es in seinem Herzen, in seinem Bauch. Und je mehr er es fühlte, desto gehemmter wurde er. Desto nutzloser kam er sich vor. Warum fiel es ihm so unendlich schwer, seine Traurigkeit darüber zu zeigen? Oder sie
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