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Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Zu zweit tut das Herz nur halb so weh

Titel: Zu zweit tut das Herz nur halb so weh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Kibler
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EINS
    MISS ISABELLE, GEGENWART
    Als Dorrie und ich uns vor ungefähr zehn Jahren kennenlernten,
war ich nicht gerade freundlich zu ihr. Als alter Mensch wird man ziemlich
direkt, weil einem vieles gleichgültig ist. Dorrie dachte, ihre Hautfarbe sei
schuld. Falsch gedacht. Ich war ungehalten, weil meine Friseurin – heutzutage
nennen sie sich Stylistinnen, was in meinen Ohren viel zu überheblich klingt –
gekündigt hatte, ohne mir ein Wort zu sagen. »Aber Dorrie könnte Sie gleich
drannehmen«, teilte man mir im Salon mit.
    Dorrie war meines Wissens die einzige Afroamerikanerin in dem Salon.
Womit ich kein Problem hatte. Aber ich hasse Veränderungen. Und Menschen, die
nicht wissen, wie ich meine Haare möchte. Menschen, die mir die Haube im Nacken
zu eng binden. Menschen, die ohne Vorwarnung verschwinden.
    Ich brauchte eine Weile, um mich mit der neuen Situation
anzufreunden. Ich bin ein Gewohnheitstier; im Alter verstärkt sich das noch.
Mit meinen inzwischen neunzig Jahren könnte ich Dorries Urgroßmutter sein. Sie
ahnt vermutlich nicht, dass sie für mich fast zu der Tochter geworden ist, die
ich nie hatte. Ziemlich lang habe ich sie von Salon zu Salon begleitet, bis sie
endlich ihren eigenen hatte. Inzwischen kommt sie zu mir nach Hause – wie eine
Tochter es tun würde.
    Anfangs redeten wir noch übers Wetter, die Nachrichten und
Fernsehsendungen, während sie mir die Haare wusch und frisierte. Wenn man Woche
um Woche, Jahr um Jahr eine Stunde oder länger mit derselben Person zusammen
ist, werden die Gespräche zwangsläufig intensiver. Irgendwann fing Dorrie an,
von ihren Kindern zu erzählen, von ihrem verrückten Exmann, von ihrem Traum,
eines Tages ihren eigenen Salon zu eröffnen, und später von der vielen Arbeit,
die das mit sich brachte. Ich kann gut zuhören.
    Aber einige Male bat sie auch mich, von mir etwas zu erzählen. Als
sie zum Beispiel das erste Mal zu mir nach Hause kam, wollte sie etwas über die
Menschen auf den Fotos und die Erinnerungsstücke, die bei mir herumstehen,
erfahren. Und über diesen Teil meines Lebens fiel es mir nicht schwer zu
sprechen.
    Schon merkwürdig, wie man manchmal – gegen alle Erwartungen und an
den ungewöhnlichsten Orten – einen Freund findet. Oft genug muss man nach der
ersten Begegnung mit einem Menschen feststellen, dass man eigentlich keine
Gemeinsamkeiten hat. Oder man glaubt, dass sich nie mehr als eine Bekanntschaft
entwickeln wird, weil man so unterschiedlich ist. Aber dann geht die Sache
länger als erwartet weiter, und die Beziehung vertieft sich, bis man diese
Person besser kennt als viele andere. Man hat einen echten Freund gewonnen.
    So ist es bei Dorrie und mir. Wer hätte gedacht, dass wir nach zehn
Jahren noch miteinander zu tun hätten? Dass wir nicht nur über Fernsehsendungen
reden, sondern sie uns sogar miteinander anschauen würden? Dass ihr immer ein
Grund einfallen würde, bei mir vorbeizukommen und mich zu fragen, ob sie etwas
für mich erledigen soll – brauche ich Milch oder Eier? Muss ich zur Bank? Oder
dass ich beim Einkaufen ihre Lieblingslimonade für sie mitnehmen würde?
    Vor ein paar Jahren wurde sie plötzlich verlegen, als sie mir eine
Frage stellen wollte.
    Â»Was ist?«, sagte ich. »Hat’s dir die Sprache verschlagen? Das wär
ja mal was Neues.«
    Â»Ach, Miss Isabelle, das interessiert Sie sicher nicht.«
    Â»Wenn du meinst.« Ich neige nicht dazu, andere Leute zu drängen,
wenn sie mir etwas nicht verraten wollen.
    Â»Na ja, wenn Sie darauf bestehen …« Sie grinste. »Stevie hat am
Donnerstagabend ein Konzert. Er spielt ein Trompetensolo. Sie wissen doch, dass
er Trompete spielt, oder?«
    Â»Wie hätte mir das entgehen können, Dorrie? Davon erzählst du seit
drei Jahren, seitdem er angefangen hat.«
    Â»Ja, Miss Isabelle. Ich bin einfach schrecklich stolz auf meine
Kinder. Hätten Sie Lust mitzukommen?«
    Ich schwieg. Nicht, weil ich überlegen musste, sondern weil ich
erstaunt war. Anscheinend zu lange.
    Â»Schon okay, Miss Isabelle. Sie müssen sich nicht verpflichtet
fühlen. Ich bin deswegen nicht eingeschnappt …«
    Â»Nein, nein! Sehr gern. Ich wüsste nichts, was ich am Donnerstag
lieber tun würde.«
    Sie lachte. Ich ging sowieso nie weg, und am Donnerstagabend kamen
im Fernsehen nur langweilige Sendungen.
    Seitdem hat sie mich immer

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