Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
beiseitezuschieben? Alles wäre besser gewesen, als immer verschlossener zu werden. Natürlich konnte er verstehen, dass Linus sich so für Eddas Großmutter einsetzte. Schließlich dankte es ihm Edda mit zarten, scheinbar zufälligen Berührungen, mit heimlichen Blicken, mit ihrem wunderbaren Lächeln, das ein so süßes Kräuseln auf ihre so gerade Nase zauberte. Ach, Scheiße! Am schlimmsten für Simon war, dass Linus von Eddas Blicken und Berührungen nichts mitzubekommen schien. Wie ungerecht die Liebe ist.
Edda blieb stehen und Linus drehte sich um. Sein Taschenlampenlicht erfasste ihr Gesicht. Es war nicht mehr weiß, es war fast grün.
„Durch den Mund geht einfach nicht“, stieß sie unter Würgen hervor. „Das fühlt sich an, als hätte ich die ganze Scheiße auf der Zunge.“ Kaum hatte sie das gesagt, musste sich Edda übergeben und die Reste einer Pizza con tutto suchten in einem Schwall den Weg ins Freie. Edda holte tief Luft, doch das führte zu einem weiteren Brechanfall. Simon trat zu ihr und hielt ihr die Haare zurück. Doch Edda drehte sich sofort weg. Sie wollte nicht, dass Simon sie so sah. Dass überhaupt jemand sie so sah!
Ratlos standen Linus und Simon daneben und Simon reichte Edda schließlich ein Taschentuch. Endlich lächelte sie ihn erschöpft an, nahm es und wischte sich den Mund ab. An Simons linker Hand war immer noch der dicke Verband, den sie ihm angelegt hatte und der den Stumpf seines Mittelfingers umwickelt hielt.
„Wird wohl jetzt schwierig werden mit dem Zehnfingersystem“, hatte Simon gewitzelt, bevor er auf dem Gleisgelände vor Schmerz und Schock in Ohnmacht gefallen war. Keiner von ihnen hatte sich vorstellen können, wie hart es werden würde, auf den Straßen von Berlin zu überleben. Sie hatten es auf die brutal Art lernen müssen. Die Straße schien das Böseste hervorzulocken in denen, die ohne Obdach lebten. Manche von ihnen hatten nichts mehr zu verlieren außer ihrem Leben. Und als die drei auftauchten, hatten sie es auf Simon abgesehen. Einfach nur so. Weil er neu war. Und weil es vorher einen bedeutungslosen Streit mit ihm gegeben hatte. Die Gang aus jungen Deutschen und Russen hatte Simon in einem abbruchreifen Bahnwärterhäuschen aufgestöbert. Zusammen mit Edda und Linus. Drei gegen fünfzehn. Edda, Simon und Linus hatten keine Chance. Grölend wurden sie zu der nahen Bahnstrecke geschleppt. Zu viert fesselten sie Simon an die Gleise und ketteten von seiner linken Hand nur den Mittelfinger fest. Den hatte Simon ihnen gezeigt. Die rechte Hand ließen sie frei. Eine Kneifzange hatten sie ihm noch hingelegt. Ein Experiment, hatten sie gesagt und dann warteten sie. Und tranken. Und wetteten darauf, welcher Zug Simon erwischen würde. Aber vielleicht, wenn er mutig war, konnte er sich ja rechtzeitig befreien. Mit der Zange. Bei all dem zwangen sie Linus und Edda zuzusehen. Auch als sich der ICE aus Göttingen näherte.
„Weiter!“, trieb Simon sie an. „Wir müssen weiter.“
„Geht’s?“, fragte Linus Edda. Sie nickte und rieb sich noch einmal den Tiger-Balm unter die Nase, und dann huschten sie weiter. Wie riesige Ratten. Gebückt. Als forderte das der gewölbte Backsteintunnel. Noch aber war der Tunnel so hoch, dass sie aufrecht hätten laufen können. Noch führte der Weg erhöht und parallel zu dem Abwasserkanal. Nach ein paar Hundert Metern jedoch endete der Steg. Linus hatte das natürlich eingeplant. Er packte aus einer Tasche, die er mitgeschleppt hatte, die Fischerstiefel aus und zog sie über. Edda und Simon machten es ihm nach. Die Fischerstiefel waren eigentlich viel mehr als nur Stiefel, es waren Gummihosen. Sie gingen in eine Latzhose über. Und als die drei die Hosen angezogen hatten, reichte ihnen der Wasserschutz fast bis zum Hals.
Es war klar, was jetzt zu geschehen hatte. Nun mussten sie in die Kloake steigen, wenn sie ihren Plan weiter umsetzen wollten. Dann mussten sie sich über einen Kilometer gegen die Strömung voranarbeiten, bevor sich der Tunnel nach einer Biegung wieder weiten würde. An der Stelle, wo von Norden das Abwasser aus Spandau eingeleitet wurde. Edda, Linus und Simon sahen sich an und schwiegen. Dann kletterte Edda als Erste in den stinkenden, unterirdischen Fluss.
„Warte!“, sagte Linus. Mit einem Karabiner befestigte er ein Seil an den Trägern von Eddas Hose und dann an seiner und der Hose von Simon. So konnten sie sich nicht verlieren. Linus ließ die Tasche zurück und die drei stiegen in die trübe
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