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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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plötzlich so unruhig? Aber sie kannte das. Sie neigte dazu, sich die größtmöglichen Katastrophen vorzustellen. Vielleicht weil es so schön war, wenn sich alles in Wohlgefallen auflöste.
    Der Sturm war losgebrochen und Edda hörte, wie über ihr eine Tür im Wind schlug. Sie lief die Treppe hinauf und da fiel Edda ein, dass sie nicht das ganze Haus durchsucht hatte. Da war noch die Klappe zum Dachboden.
    Edda war nicht auf dem Dachboden gewesen.
    „Marie?!“
    Edda stieg die kleine Holztreppe hinauf und blieb geduckt unter der Klappe aus alten Schiffsplanken stehen, die im Wind ratterte.
    Was, wenn Marie dort oben war? Wenn sie sich erhängt hatte? Blödsinn! Marie würde sich nie erhängen! Sie war kerngesund und biegsam wie ein Grashalm, weil sie jeden Tag Yoga machte. Edda drückte die Klappe nach oben, stieg die letzten Stufen hinauf und stand in dem niedrigen Raum, in dem sich noch immer die Sonnenwärme des Herbsttages staute. Sie sah die vertrockneten Insekten, die leblosen Falter und Fliegen, die sich an den beiden kleinen Scheiben zu Tode geflattert hatten. Sie roch das Holz und den Geruch des warmen Reets, den sie so liebte, und sie fragte sich, ob sie schon einmal hier oben gewesen war. Ob der Dachboden in Eddas Kopf genau dieser Dachboden war? Vielleicht weil sie als Kind hier oben gespielt hatte? Aber Edda konnte sich nicht daran erinnern. Sie hatte einfach nicht mehr daran gedacht, dass das flache Haus ja einen Dachboden hatte.
    „Marie?“
    Der Regen prasselte aufs Dach. Edda schritt durch das Zwielicht vorsichtig auf den gemauerten Kamin zu, der den Dachboden in der Mitte teilte und den hinteren Bereich vor ihren Blicken verbarg. Dort stand, mitten in einem hellen Blitz, der sich den Weg durch die Wolken gebahnt hatte und in dem für einen Augenblick die Staubteilchen auf- und abtanzten wie kleine Sterne, eine große Truhe. Groß genug, dass Edda sich darin hätte verstecken können. Die Truhe war alt und an den Ecken rund und wurde durch einen abgestoßenen Holzrahmen zusammengehalten, der davon kündete, dass sie oft ein- und ausgepackt worden war, bevor sie ihren letzten Ruheplatz hier oben auf dem Boden gefunden hatte. Sie war beklebt mit alten vergilbten Aufklebern von Grandhotels in Bombay, Berlin, London, New York und Los Angeles. Boston und São Paulo.
    Fasziniert betrachtete Edda die Aufkleber und sie war sich sicher: Wenn sie hier als kleines Kind gespielt hätte, würde sie sich an dieses geheimnisvolle Behältnis erinnern.
    Die Truhe war der einzige Gegenstand hier oben. Merkwürdig eigentlich bei dem Alter des Hauses und den vielen Menschen, die ihre Leben hier verbracht hatten, dachte Edda.
    „Marie?“
    Vorsichtig ging Edda auf die Truhe zu, als erwartete sie, dass jeden Augenblick Marie herausspringen würde wie ein Kistenteufel. Oder eine Tänzerin aus einer Torte. Vorsichtig legte Edda das Ohr an die Truhe. Sie roch ein wenig nach Teer.
    Edda versuchte, den Deckel der Truhe anzuheben. Sie war verschlossen. Suchend blickte sie sich um und entdeckte einen kleinen Schlüssel, der an einen rostigen Nagel zwischen den Ziegeln des Kamins gehängt worden war. Der Schlüssel glänzte, als wäre er erst kürzlich poliert worden. Edda nahm ihn, steckte ihn in das Schloss der Truhe und drehte ihn um. Das Schloss schnappte auf und Edda hob den Deckel an.
    Edda beugte sich in die tiefe Truhe und holte ein paar Kleidungsstücke heraus. Darunter ein Trikot und diverse Kleider – offensichtlich Bühnenkleider – bestickt mit Pailletten, bunte Schals und hohe Schuhe. Unter den Stoffteilen entdeckte Edda auf dem Boden der Truhe eine kleine Holzschatulle mit Einlegearbeiten. Sie holte sie heraus, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und öffnete sie.
    In der Holzschatulle befanden sich neben weiteren Dokumenten zusammengefaltete Plakate, Zeitungsausschnitte und Programme von verschiedenen deutschen Kabaretts, vom Zirkus und vom Berliner Wintergarten. »Der Große Furioso« stand auf einem der Plakate. »Die andere Wirklichkeit.« Und: »Schauen Sie in die Welt der Atome!«
    Auf den alten Bildern und Plakaten sah man einen Magier mit dem weißen Turban eines Sikhs und seine Assistentin. Die bunten Plakate wirkten so alt, als seien sie nicht nur aus einer anderen Zeit, sondern aus einer anderen Welt. Die Assistentin des Magiers war eine junge Frau – fast noch ein Mädchen – mit blonden Haaren und einem Zylinder auf dem Kopf. Diese Frau war ... Nein, das konnte nicht sein. Edda besah

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