Abaton
Überzeugung, das Richtige zu tun, war er nach Stammheim gefahren. Hatte seinen Ausweis, seinen Besucherschein, vorgezeigt. Die Beamten waren unfreundlich zu ihm. Berufskrankheit, dachte Simon. Vielleicht lag es daran, dass sie während ihrer Arbeit auch eingesperrt waren. Einer der Mitarbeiter am Eingang winkte Simon mit sich und brachte ihn zum Verwaltungsgebäude. Simon fragte, warum. Er bekam keine Antwort.
Sie liefen über einen langen Gang und das Linoleum unter Simons Schuhsohlen quietschte vergnügt. Als Simon merkte, dass das den Schließer vor ihm schrecklich nervte, war es ihm ein Spaß, die Füße beim Gehen noch ein wenig auf dem Boden zu drehen. Vor einer Glasscheibe musste Simon warten. Schließlich erschien dahinter ein wohlgenährter Beamter. Er hatte Simons Besucherschein in der Hand und schüttelte den Kopf, bevor er anfing zu reden. Simons Vater sei nicht mehr in Stammheim. Er sei gestern verlegt worden.
„Aber er wusste, dass ich ihn besuchen wollte ...“, sagte Simon, der die Nachricht nicht glauben konnte. „Aber warum?“
Wieder nur ein Schulterzucken.
Simon starrte auf den uniformierten Mann hinter der kugelsicheren Glaswand. Der zuckte die Schultern.
„Mein Vater hätte sich nicht verlegen lassen, wenn er gewusst hätte, dass ich komme!“
„Doch hat er.“
„Er hat sich nicht verlegen lassen!“, schrie Simon. Er bemühte sich um einen normalen Tonfall. „Wohin wurde er denn verlegt?“
Spöttisch schaute der Beamte ihn an. „Du musst morgen wiederkommen. Die Computer sind kaputt.“
Wütend schlug Simon mit der Faust gegen die Scheibe. Der Mann dahinter sprang auf.
Simon drehte sich um und verließ das Gefängnis. Gedemütigt und verletzt. Er konnte es immer noch nicht begreifen. Wenn es stimmte, dass sein Vater sich hatte verlegen lassen, warum? Ging er ihm aus dem Weg? Und wenn er ihn nicht sehen wollte? Simon überlegte, ob er nicht wieder nach Mannheim zurückkehren sollte. Doch was wartete da auf ihn? Sein Handy gab Laut. Eine Meldung von Mumbala. Der hatte ihm gerade noch gefehlt. Ein Foto. Er hatte eine Vodoo-Puppe gebastelt und drohte, Simon aufs Gemeinste zu quälen, wenn der nicht sofort mit der Kohle und dem „anderen“ nach Hause kommen würde. Simon schüttelte den Kopf. „Und dem anderen“...
„Tauch ins Klo“, textete er zurück an diesen beschissenen Lügner, der Drogen an die Araber vertickte und seine Mutter arbeiten ließ. Nein, dachte Simon, zurück war kein Weg. Trotzdem begann der Gedanke an eine glühende Nadel und eine Wachspuppe, die Simons Gesichtszüge trug und mit Haaren aus seiner Bürste ausgestattet war, an seiner neu gewonnenen Zuversicht zu nagen.
Simon wischte den Gedanken beiseite und rätselte weiter über die Frage, warum und vor allem wohin sein Vater verlegt worden war. War sein Vater gar nicht sein Vater? War das der Grund, dass er ihn nicht sehen wollte? Dass er nach Davids Tod die Familie verlassen hatte, dass Simon nun bei seiner Mutter leben musste? All das wollte Simon wissen und alles, was er im Augenblick wusste, war, dass es kein Zurück auf den Pestbuckel mehr gab. Egal, wo sein Vater war. Immerhin etwas. Simon wurde jetzt ganz und gar von einem Trotz beherrscht, der ihn daran hinderte zu akzeptieren, dass der Vater sich einfach so um ein Treffen drückte. Nein. Wenn es stimmte, dann musste sein Vater es ihm ins Gesicht sagen, dass er nichts von ihm wissen wollte.
Er musste herausfinden, wo sein Vater nun war. Und er würde einen neuen Besucherschein beantragen müssen. Das konnte dauern. Tage. Wochen. Zeit, die Simon nicht hatte. Denn er spürte, dass die Energie bereits nachließ, die er in sich hatte, seit er die merkwürdige Hypnose-App gesehen hatte. Aber egal.
[ 1243 ]
Der Rhein. Tief unter ihm. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß Linus in der Bahn nach Porz. Er sah den Dom, der wie seit Jahrhunderten die Stadt dominierte. Linus mochte diesen Bau nicht. Er war ihm zu kalt, sowohl drinnen als auch von außen. Immer schien dort ein seltsam eisiger Wind zu wehen, als wollte er die Menschen von dem Betreten des Gotteshauses abhalten. Der Hauch des Teufels? Linus lächelte. Wäre ein guter Titel für einen Film.
Die Bahn hatte den Rhein zur Hälfte überquert.
Als er kleiner war, hatte Linus mal eine Flaschenpost in den großen Fluss geworfen. Er wollte es dem Schicksal überlassen, für ihn einen besten Freund zu finden. Er wunderte sich oft über die anderen Kinder aus seiner Klasse, die sich so leicht
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