Abaton
damit taten, immer wieder neue Freundschaften zu schließen. Und alte zu beenden. Er konnte das nicht begreifen. Ein Freund, das war doch für die Ewigkeit. Also schrieb er einen Brief über die Suche nach einem besten Freund und bat seine Mutter, auf Englisch, Französisch und Spanisch „Schreib
bitte zurück“ hinzuzufügen. Zusammen mit einem Foto steckte er den Brief in eine Flasche, verschloss sie wasserdicht und warf sie in den Fluss. Er stellte sich vor, wie die Flasche den Rhein hinunterschwimmen, wie sie über das Meer treiben und irgendwo auf einer fernen Insel am Strand gefunden würde. Von einem Jungen, der ihm antworten würde. Der genau wie Linus nur darauf gewartet hatte, einen besten Freund in einem fernen Land zu finden.
Linus lächelte über den dummen Jungen, der er mal gewesen war.
Er studierte damals genau den Weg, den der Rhein nahm; und er berechnete die Fließgeschwindigkeit. Sein Vater freute sich, dass sich der Junge mit Wissenschaft beschäftigte. Linus erklärte, es handle sich um ein Schulprojekt, und schon übernahm der Vater die Führung in der Sache.
Wenn man das richtig anpacken will, braucht man mehr als die Fließgeschwindigkeit, belehrte er Linus. Man muss auch die Wetterlagen, die Strömungen und das Gewicht der Flasche berücksichtigen. Und du musst immer eine Variable einbauen, sagte der Vater.
Wenn es um wissenschaftliche Dinge ging, konnte er seinen Vater alles fragen. Aber ansonsten haperte es mit der Kommunikation mit ihm. Es gab Dinge, die konnte sein Vater nicht sagen. „Ich hab dich lieb“, zum Beispiel. Egal. Während sich sein Vater wieder seinen Experimenten im Gewächshaus widmete, wartete Linus auf eine Antwort. Sie kam nicht. Ein ganzes Jahr lang schaute Linus, wenn er aus der Schule kam, zuerst in den Briefkasten und dann auf die Computersimulation, die sein Vater für ihn erstellt hatte, um die jeweilige Position der Flasche nachzuvollziehen. Der Vater hatte natürlich den Golfstrom bedacht, er hatte die Winde dieser Jahreszeit anhand des Mittels der letzten 30 Jahre bestimmt und errechnet, dass die Flasche nun an Norwegen vorbei in Richtung Arktis trieb. Wer da wohl wohnte?, fragte sich Linus.
Aber was, fragte er sich schließlich, wenn die Flasche mit Heringen oder Krabben von einem Fischkutter aus dem Meer gefischt worden war?
„Dann hast du Pech gehabt“, war die Antwort des Vaters gewesen. „Das könnte eine der möglichen Variablen sein …“
[ 1244 ]
Linus hatte richtig vermutet. Der Name seiner Großmutter, die lange im Stadtarchiv gearbeitet hatte, öffnete ihm die Türen zur Halle in Porz.
In weißen Kitteln und mit Handschuhen arbeiteten hier die Mitarbeiter wie Chirurgen und versuchten, die aus dem Untergrund der Stadt geborgenen Fundstücke zu säubern und erneut zu archivieren. Die alte Frau Grass, die schon immer alt gewesen war, nahm Linus unter ihre Fittiche. Linus stellte sich wie früher vor, dass die schwabbelnde Haut ihrer Arme die Fittiche der Frau Grass waren. Er hatte immer noch nicht gegoogelt, was Fittiche eigentlich waren.
Frau Grass legte den weichen Arm um Linus und führte ihn durch die Halle wie eine kleine Trophäe. Sie hatte wohl das Gefühl, den Jungen trösten zu müssen, und erklärte, dass seine Eltern bedeutende Menschen gewesen seien und ihre Forschungsergebnisse dem Archiv hinterlassen hätten. Linus ging ihr Salbadern auf die Nerven. Das Wort gefiel ihm. Rob hatte ihm mal erklären wollen, was es heißt, aber da hatte Linus schon auf Durchzug gestellt.
„Was haben Sie gefunden?“
„Leider gar nix!“, sagte Frau Grass wichtig. Sie blieb stehen und schaute ihm tief in die Augen. „Aber ...!“ Sie senkte die Stimme. „Von dem Herrn Professor!“ Der ehrfurchtsvolle Ton und die gesenkte Stimme waren Linus’ Großvater, dem Philosophieprofessor, geschuldet.
Sie führte Linus zu einem Tisch und zeigte ihm ein Notizbuch. Linus kannte diese Bücher. Es waren die Tagebücher seines Großvaters. Bei ihm zu Hause hatten sie dutzendweise herumgestanden.
„Die wirst du einmal erben!“, hatte die Großmutter immer gesagt und Linus dabei ernst betrachtet. „Du hast ein Talent für den Logos.“
Als er das zum ersten Mal hörte, mit drei oder vier, freute sich Linus ein Loch in den Bauch. Dumm nur, dass er »Logos« mit »Legos« verwechselt hatte.
Frau Grass schien Linus anzusehen, dass ihn der Fund nicht wirklich glücklich machte. „Wenn du willst“, sagte sie und deutete zu einer Tür, „nebenan
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