Abbau Ost
als die DDR vorstellen konnten. Das
Buch dokumentierte in geradezu ernüchternder Weise, wie sich die altbundesdeutsche Elite über das Wiedervereinigungsgebot
hinwegsetzte und damit jenen ehernen Grundsatz preisgab, den der Parlamentarische |295| Rat dem Nachkriegsdeutschland ins Grundgesetz geschrieben hatte. »Von der Stasi-Vergangenheit in der DDR«, schrieb Hans-Peter
Schwarz in seiner Kritik zum Erscheinen des Buches in der Tageszeitung ›Die Welt‹, »ist derzeit viel, von den deutschlandpolitischen
Irrtümern und Fehlleistungen in der Bundesrepublik nur wenig die Rede. Die Letzteren aber sind gravierender, denn sie kamen
in einer freien Informationsgesellschaft und ohne Not zustande.«
Das war 1992. Seitdem hat sich nichts geändert. Über dem Thema liegt eisiges Schweigen. »Mit Recht«, schrieb Jens Hacker in
seinem Buch, »erwarten die Bürger in den neuen Bundesländern die Prüfung der Frage: Wie kam es im Westen zur weitgehenden
Preisgabe der staatlichen Einheit und de facto zum Verzicht auf ursprünglich bundesdeutsche Dogmen zur Deutschland-Politik?«
Die Tatsachen sind erdrückend. »In einem zentralen Punkt stimmen die Aussagen bundesdeutscher Politiker aller Parteien überein:
Alle achteten darauf, nichts zu tun oder zu sagen, was auf eine Destabilisierung der DDR hinausgelaufen wäre. Das gilt für
Bundeskanzler Kohl, Franz Josef Strauß und die übrige CDU- und CSU-Führungsgarnitur. Aber auch auf sozialdemokratischer Seite
sind keine Aussagen auszumachen, die die Stabilität des politischen Systems in der DDR infrage gestellt hätten oder auf eine
Schwächung hinausgelaufen wären. Aufgrund der bisher ausgewerteten DDR- und SED-Archive haben führende bundesdeutsche Politiker
– vor allem sozialdemokratischer Provenienz – die normative Distanz zum SED-Staat und dessen Führung in einem Umfang verloren,
der objektive Beobachter nur in Erstaunen versetzen konnte.« Noch unmittelbar vor ihrem Zusammenbruch sollte die DDR in Beton
gegossen und die deutsche Teilung auf ewig zementiert werden. »Kurz vor seinem Ende«, hieß es in einem von der Enquete-Kommission
»Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« in Auftrag gegebenen Gutachten, »stand der SED-Staat
dicht vor seinem qualitativen Durchbruch in der Westpolitik. Die Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft war in greifbare
Nähe gerückt; Überlegungen, das Wiedervereinigungsgebot aus der Präambel des |296| Grundgesetzes zu streichen, trafen auf Befürworter in allen Fraktionen des Deutschen Bundestages.«
Dieses neue Bild von der DDR hatte längst in die westdeutschen Schulbücher Eingang gefunden. »So gab es im Frühjahr 1990 ein
böses Erwachen«, resümierte Jens Hacker am 14. September 1992 auf einer Tagung des Realschullehrerverbandes Nordrhein-Westfalen,
»als sich die Bundesregierung entschloss, 30 Millionen Mark bereitzustellen, um die in der DDR nach der gewaltlosen Revolution
untauglich gewordenen Schulbücher durch bundesdeutsche zu ersetzen. Die DDR benötigte damals vor allem Lehrgut über Politik,
Gesellschafts- und Gemeinschaftskunde.« Doch die westdeutschen Schulbücher sorgten im Osten für großes Erstaunen. »Ob die
ostdeutschen Pädagogen und Umerzieher zur Demokratie«, lästerte ›Der Spiegel‹ im Mai 1990, »an der Bonner Gabe allzu viel
Freude haben werden, ist zu bezweifeln. Denn aus den DDR-Lektionen der westdeutschen Unterrichtsmaterialien lernen die Schüler
nicht selten, wie schön es noch gestern im real existierenden Sozialismus war.«
Die Schulbücher wurden schnell aus dem Verkehr gezogen. Unter großem Zeitdruck wurde in den Redaktionsstuben westdeutscher
Schulbuchverlage ein neues Geschichtsbild entworfen. Jetzt schlug die Darstellung ins andere Extrem um. Das hat Lehrkräften
in Ost und West die Freude an dem Thema gründlich verleidet. Dabei ging es den DDR-Bürgern damals kaum anders. Auch sie hatten,
solange sie die Bundesrepublik nicht aus eigenem Erleben kannten, eine hohe Meinung von der deutschen Föderation. Viele haben
die Westdeutschen um ihr Gesellschaftsmodell beneidet und auf das Leben auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs all ihre
Hoffnungen gesetzt.
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