Abbau Ost
der fünf neuen Bundesländer nach Artikel 23 des Grundgesetzes, mit 294 gegen 62 Stimmen.
Damit waren die Weichen gestellt. Leidenschaftliche Debatten löste noch der Tag des Beitritts fünf neuer Bundesländer und
des offiziellen Endes der DDR aus. Die Sondersitzung zog sich bis in die Nachtstunden hin. Dieser Tag war für die Volkkammerabgeordneten
von ganz besonderem Interesse, denn mit dem Beitritt endete ihr Mandat und stellte sich die Frage nach ihrem weiteren politischen
Werdegang. Der »Tag der Einheit« musste, so viel stand fest, zwischen dem 30. September und dem 1. Dezember liegen. Am 29.
September sollte der deutsch-deutsche Einigungsvertrag in Kraft treten und für den 2. Dezember waren die ersten gesamtdeutschen
Wahlen anberaumt, wobei bedacht werden musste, dass den Akteuren im Hinblick auf die Wahlvorbereitungen und die Schaffung
fünf neuer Länder die Zeit davonlief. Nach den nächtlichen Debatten und der folgenden Abstimmung trat der PDS-Vorsitzende
Gregor Gysi ans Rednerpult und verkündete: »Das Parlament hat nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen
Republik zum 3. Oktober beschlossen.« Gysis Worte entfachten einen Jubelsturm, die Abgeordneten applaudierten begeistert,
einige begrüßten die Ankündigung mit |289| Bravorufen. Von den 409 Volkskammerabgeordneten wechselten am 3. Oktober 144 in den Bundestag. Für die anderen 256 Abgeordneten
boten sich im Beitrittsgebiet vielfältige berufliche Chancen in den öffentlichen Verwaltungen und in den fünf neu zu wählenden
Landesregierungen.
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Vertrag ohne Partner
Unterzeichnet wurde der Einigungsvertrag am 31. August, um 13.15 Uhr, im Ostberliner Kronprinzenpalais »Unter den Linden«
von Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern, und Günther Krause, parlamentarischer Staatssekretär beim Ministerpräsidenten
der DDR. Am 20. September bestätigten die Volkskammerabgeordneten den Einigungsvertrag mit 299 von 380 Stimmen, die des Bundestags
mit 442 von 492 Stimmen. Zu guter Letzt musste das Vertragswerk noch dem Bundesrat vorgelegt werden, ehe es, nachdem die Länderkammer
zugestimmt hatte, am 29. September in Kraft treten konnte. Heute wird allgemein angenommen, am 3. Oktober 1990, dem »Tag der
Einheit«, sei die DDR der Bundesrepublik beigetreten. Allerdings konnte nach Artikel 23 des Grundgesetzes nicht die DDR der
deutschen Föderation beitreten, sondern allenfalls die neuen Bundesländer. Die aber gab es am 3. Oktober 1990 noch gar nicht.
Das sogenannte Ländereinführungsgesetz trat überhaupt erst am 14. Oktober 1990 in Kraft. So gesehen wurde am Tag der Einheit
lediglich die Deutsche Demokratische Republik aufgelöst. Wenn das Ganze überhaupt einen Sinn ergeben sollte, hätten zunächst
fünf neue Beitrittsländer gegründet werden müssen, damit deren, durch freie Wahlen legitimierte Regierungschefs den Einigungsvertrag
unterzeichnen und dessen Einhaltung überwachen konnten. So aber war der Beitritt nicht zulässig. Die Deutschen hätten sich
vielmehr, wie im Grundgesetz gefordert, anlässlich der »Vollendung der Einheit und Freiheit für das gesamte deutsche Volk«
eine Verfassung geben müssen, »die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist«.
|290| Völkerrechtlern gilt der Einigungsvertrag als das wohl kurioseste Vertragswerk der Menschheitsgeschichte. Mit dem »Tag der
Einheit« löste sich einer der beiden Vertragspartner auf. Die Bundesregierung konnte sich an die Regelungen halten oder nicht,
es gab niemanden, der auf die Einhaltung seiner Rechte gedrängt hätte. Günther Krause, der für die DDR maßgeblich an dem völkerrechtlichen
Vertragswerk mitgewirkt hatte, sollte später sagen, »nur vierzig Prozent der vereinbarten 5500 Regelungen sind überhaupt erfüllt
worden«.
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Günther Krause für die Deutsche Demokratische Republik
Sommer 2002. Die Sonne brennt unbarmherzig auf die Fensterfront im Großen Saal des Rostocker Landgerichts. Auf der Anklagebank
sitzt Günther Krause. Ihm ist heiß, er schwitzt. Das alles ist ihm sichtlich unangenehm. Mit hochrotem Kopf folgt er den Ausführungen
der Staatsanwaltschaft. Diese Leute wollen ihn im Knast sehen. Die Anklage lautet auf Untreue, Betrug und versuchte Steuerhinterziehung.
Die Staatsanwälte packen ihn immer wieder unterhalb der Gürtellinie. Seine geschiedene Frau und seine beiden Söhne sitzen
im Gerichtssaal. Sie wird gegen ihn
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