Abbau Ost
Mitbestimmungsmöglichkeiten betrifft, in Grenzen. Allerdings hängen die Aussagen, die sie bei Meinungsumfragen
zu Protokoll geben, immer auch von der persönlichen wirtschaftlichen Situation ab. Je besser der Befragte wirtschaftlich gestellt
ist, umso größer ist seine Neigung, das politische System positiv zu bewerten, und umso eher neigt er zu der Annahme, er lebe
in stabilen demokratischen Verhältnissen. Wer unabhängige Aussagen möchte, wendet sich am besten an die kritischsten Köpfe,
die eine Gesellschaft aufbieten kann, an die Jugendlichen. Aber auch hier fallen die Antworten auf die Frage: Was bedeutet
eigentlich Demokratie?, unbefriedigend aus. Typisch ist ein Kommentar wie: »Ja, so was hatten wir mal, da steht auch irgendwo
was im Schnellhefter.« Dort steht tatsächlich eine kurze, mit einem Ausrufezeichen versehene Definition: »Demokratie ist eine
Herrschaftsform, an der alle Bürger ohne Unterscheidung des Geschlechts, der Rasse, der Sprache, der Religion, der Weltanschauung,
des Berufs und der Abstammung gleiche Rechte haben.« Das aber ist nur eine oberflächliche, allein auf das deutsche Verwaltungsprinzip
der Rechtskonformität zielende Sicht. Konkreter wird das Problem in der Schweiz angegangen: »Demokratie ist eine Staatsform
mit einer Verfassung, die allgemeine persönliche und politische Rechte garantiert, mit fairen Wahlen und unabhängigen Gerichten.«
Noch umfassender, wenn auch nicht so eingängig, ist die Darstellung des angelsächsischen Demokratiebegriffs, nämlich als »Staatsform,
in der die Regierten in der Lage sind, direkt durch Plebiszite und indirekt durch Wahlen die Ausübung legislativer und exekutiver
Gewalt und die Auswahl der höchsten Vertreter der Exekutive zu bestimmen«.
Während die erste, allein auf Rechtskonformität zielende Erklärung |185| bei Jugendlichen nur wenig Interesse weckt, ergeben sich aus den anderen Erklärungen interessante Fragen. Warum haben wir
ein Grundgesetz und keine Verfassung? Gibt es in Deutschland tatsächlich faire Wahlen? Sind deutsche Gerichte unabhängig?
Warum gibt es auf Bundesebene keine und auf Länderebene nur mehr oder weniger schwach ausgeprägte Mitbestimmungsmöglichkeiten?
Ist tatsächlich das Volk die alles bestimmende Kraft?
Demokratie ist ein Ideal, aber keine ideale Staatsform. Sie ist nichts Starres, sondern ein auf Regelkreise und ständige Erneuerung
angelegtes System. Sie ist ein fortwährender Lernprozess, der von allen Beteiligten aufrechterhalten werden muss. Vor allem
aber gründet sich Demokratie auf den Grundsatz, dass Macht der Kontrolle bedarf, weil nur Kontrolle die Macht in Schranken
hält. Das Verständnis für dieses Grundprinzip der freiheitlichen Demokratie kann nicht erzwungen werden, es ist die erste
freiwillige Leistung, die Wähler und Mandatsträger für ihren gemeinsamen Staat erbringen müssen. In einer funktionierenden
Demokratie werden Missstimmungen deutlich angesprochen und Fehlentwicklungen korrigiert, bevor größere Wählergruppen auf extreme
Parteien setzen, weil sie sich anders kein Gehör verschaffen können. Zu einem freiheitlich demokratischen Selbstverständnis
gehört das Wissen um das diffizile, für Fehlentwicklungen anfällige Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten ebenso wie
ein freier Bürgergeist, der seine verbrieften Rechte selbstverständlich in Anspruch nimmt, sich ernsthaft mit seinem politischen
Umfeld auseinandersetzt, seine Regierungsvertreter sorgfältig auswählt und von ihnen Rechenschaft fordert. Demokratie erfordert
Mut und Zivilcourage. Nötigenfalls muss das Volk selbst ein Gesetz erlassen können, das seine Vertreter zurück auf den Boden
ihrer freiheitlich demokratischen Grundordnung zwingt.
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|186| Leben wir in einer Demokratie?
Eine repräsentative Demokratie kann nicht bestehen, wenn ein
großer Teil der Wähler auf der öffentlichen Gehaltsliste steht. Wenn
sich die Parlamentarier nicht mehr als Treuhänder der Steuerzahler
ansehen, sondern als Vertreter der Empfänger von Gehältern,
Löhnen, Subventionen, Arbeitslosenunterstützung und anderen
Wohltaten aus dem Steuertopf, dann ist es um die Demokratie geschehen
.
Ludwig von Mises, nach Amerika ausgewanderter österreichischer Wirtschaftswissenschaftler, in ›Die Bürokratie‹, Sankt Augustin,
2. Auflage 2004, Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›Bureaucracy‹, Yale University Press, New Haven 1944
Von den 62
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