Abby und Schneewittchen in Gefahr: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
betrachte mein schulterlanges, lockiges, braunes Haar. Den limettengrünen Schlafanzug. Die gestreiften Puschen. Doch irgendetwas an meinem Spiegelbild stimmt nicht, und deswegen wende ich mich ab. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es ist seltsam.
»Er zischt nicht«, sage ich, während ich meinen Blick durch den Kellerraum wandern lasse. Da steht die schwarze Ledercouch. Der Schreibtisch. Der Schreibtischstuhl. Jede Menge Bücherregale mit den alten Jurabüchern meiner Eltern, die sie nie wieder lesen werden, aber auch nicht wegwerfen wol len. Mama und Papa sind nämlich beide Anwälte. Aber kei ner von beiden will Richter werden, ganz im Gegensatz zu mir.
Nur dass ihr es wisst: Ich werde eine richtig gute Richterin werden, denn Frieden und Ordnung sind mir sehr wichtig. Ich werde dafür sorgen, dass der Gerechtigkeit immer Genüge getan wird, denn es ist nicht fair, wenn böse Leute ungeschoren davonkommen oder wenn guten Menschen etwas Schlimmes passiert.
Wie zum Beispiel, wenn meine Eltern mich dazu zwingen, nach Smithville zu ziehen.
»Du musst anklopfen«, sagt Jonah.
Seine Worte holen mich wieder zurück in die Gegenwart. »Was?«
»An den Spiegel«, sagt er und zieht dabei die Augenbrauen zusammen. »Du musst anklopfen.«
Ich lache. »Ich klopfe doch nicht an einen Spiegel! Man klopft an Türen, aber nicht an Spiegel.«
»Doch, aus Versehen! Ich habe nämlich gerade Fliegendes Krokodil gespielt, als …«
»Was ist denn Fliegendes Krokodil?«, frage ich.
»Ein ganz tolles neues Spiel, das ich erfunden habe. Ich bin ein Pirat, und ich werde von Krokodilen gejagt. Nur können meine Krokodile fliegen und …«
»Egal«, sage ich schnell. Ich bereue es schon, überhaupt nachgefragt zu haben. »Und wie bist du dann beim Spiegel gelandet?«
»Na ja, als mich eins der fliegenden Krokodile verfolgt hat …«
»Als du dir vorgestellt hast, dass dich eins deiner fliegenden Krokodile verfolgt hat…«
»… als ich mir vorgestellt habe, dass mich eins der fliegenden Krokodile verfolgt hat, bin ich gestolpert und gegen den Spiegel gefallen, den ich mir nicht nur vorgestellt habe. Es hat sich angehört wie ein Klopfen. Ich mache es noch mal. Bist du bereit?«
Bereit wofür? Ich bin bereit, wieder in mein warmes Bettchen zu gehen. Doch ich antworte: »Na los.«
Er macht eine Faust und klopft an.
Wir warten. Nichts passiert.
»Es passiert nichts«, sage ich.
Doch dann höre ich ein leises zischendes Geräusch.
Sssssssssssssssss.
Ich versteife mich am ganzen Körper. Ich mag es nicht, wenn was zischt. Schon gar nicht, wenn ein Spiegel zischt. »Ähm, Jonah?«
»Siehst du? Jetzt pass auf! Pass auf, was passiert, wenn ich zweimal klopfe!«
Er klopft wieder an, und auf einmal strömt der Spiegel ein warmes Licht aus. Ein warmes, lilafarbenes Licht.
»Siehst du?«, sagt Jonah. »Lila! Hab ich doch gesagt!«
Vor Aufregung bekomme ich einen ganz trockenen Mund. Was geht hier eigentlich vor sich? Warum ändert der Spiegel in unserem Keller seine Farbe? Spiegel sollten ihre Farbe nicht ändern! Ich mag keine Spiegel, die ihre Farbe ändern!
»Und dann habe ich dich geholt. Aber ich will wissen, was passiert, wenn ich dreimal klopfe. Aller guten Dinge sind drei, richtig?«
»Jonah, nein!«
Doch zu spät. Er klopft bereits an.
Und unser Spiegelbild fängt an zu wackeln.
Ich muss sagen, ich mag es irgendwie genauso wenig, wenn Spiegel wackeln, wie wenn sie zischen.
»Was ist das?«, flüstere ich. Mein Spiegelbild kräuselt sich wie die Wasseroberfläche eines Sees. Und auch in meinem Bauch scheint sich gerade alles zu kräuseln. Habe ich eigent lich schon erwähnt, dass ich Richterin werden will, weil ich Frieden mag? Und Ordnung? Und keine sich kräuselnden, zischenden, sich lila verfärbenden Spiegel?!
»Er lebt!«, quietscht Jonah.
Inzwischen dreht sich die Spiegeloberfläche im Kreis, wie bei einem Wasserstrudel in der Badewanne.
Ich bekomme es langsam mit der Angst zu tun. »Wir sollten besser gehen«, sage ich. »Und zwar jetzt .« Ich versuche Jonah vom Spiegel wegzuziehen, aber ich schaffe es nicht. Unser Spiegelbild dreht sich wie Wäsche in der Waschmaschine im Kreis, während wir immer näher an den Spiegel herangezogen werden. Jonahs rechter Fuß rutscht mit quietschender Sohle über den Betonboden.
»Der Spiegel will meinen Fuß«, schreit Jonah.
»Den kriegt er aber nicht!« Ich ziehe an Jonah, so fest ich kann. »Du kriegst ihn nicht, du … du Spiegel-Ding!« Dann recke ich
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