Abendkuss - Teil I
mich nicht anfasst. Ich kann seine Berührungen nicht ertragen. Mein Vater starrt mich eine Weile an, bevor er zur Decke greift, die meine Großmutter Sofia gehäkelt hat und die über meinem Schaukelstuhl hängt und sie mir über die Schultern legt. Sein Blick verrät mir, dass er mir nicht glaubt.
„Du hattest wieder Alpträume.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Ich komme damit klar!“ Ich senke den Kopf und starre auf meine Hände. Ich will nicht darüber reden. Nicht mit ihm. Es gibt so viele Dinge, die er nicht weiß. Und die er nicht verstehen würde.
„Sag mir, wie ich dir helfen kann, Mia? “ flüstert er.
Kannst du nicht. Niemand kann mir helfen.
„Ich schaff das schon.“ Ich reiße mich zusammen und sehe nach oben. Mein Vater starrt mich an und ein verkrampftes Lächeln zeichnet sich auf seinem Gesicht ab.
„Geh wieder schlafen. Du musst morgen früh raus.“ Paps stupst mich mit seinem Zeigefinger an die Nase und ich zucke zurück.
„Ist gut“, murmle ich und stecke mir die Kopfhörer meines Mp3 Players in die Ohren.
„Mia?“
Ich blinzele und sehe zur Tür.
„Ja?“
Mein Vater steht im Türrahmen. Er blickt mich einen Moment an, runzelt die Stirn und schüttelt dann den Kopf.
„Ach, nichts. Das hat Zeit bis morgen. Gute Nacht.“
Ich nicke und sehe ihm nach, bis die Tür ins Schloss fällt. Dann drücke auf play und lehne meine Stirn gegen die kalte Fensterscheibe.
Auf dem Fensterbrett vor meinem Fenster sitzt Billie und putzt sein blauschwarzes Fell im Mondschein. Mit aller Kraft versuche ich die Augen offen zu halten, ich will auf keinen Fall wieder einschlafen. Ich will nicht mehr träumen, ich will vergessen. Regentropfen klopfen an die Fensterscheibe.
Tock, tock, tock, tock, tock, tock...Ein Flüstern.
Schlaf ein, schlaf ein, schlaf ein.
Die monotone Stimme dröhnt in meinem Kopf, als versuche sie mich mit aller Kraft zum Schlafen zu bringen. Verschwommen sehe ich, wie Billie sich bewegt. Er hebt seinen Schwanz und starrt auf das Backsteinhaus. Dann passiert alles ganz schnell. Billie bewegt seinen Kopf, sein Fell sträubt sich, dann setzt er zum Sprung an und landet zwischen den Zweigen des Kirschbaums in unserem Garten. Genau in diesem Moment höre ich Reifen quietschen und einen Motor aufheulen. Als hätte man seinen Schwanz in Brand gesetzt, springt das Tier vom Baum, direkt auf die Straße und jagt davon, als hinge sein Leben davon ab. Bevor ich erkennen kann, was diesen Kater so erschreckt hat, rast ein Scheinwerfer die Straße entlang. Obwohl es ein ohrenbetäubender Lärm ist, scheint niemand der Nachbarn etwas mitzubekommen.
Wahrscheinlich schlafen alle wie Tote. Die Glücklichen.
Mit einer Vollbremsung bleibt er vor unserem Haus stehen. Eine fremde Person steigt langsam von einem schwarzen Motorrad und bleibt einen Moment stehen, bevor sie den Helm abnimmt. Ich erstarre, als ich ihn sehe.
Vor unserem Haus steht ein Junge, bestimmt nur etwas älter als ich und mit seinem Motorrad sieht er aus, als wäre er direkt aus der Hölle zu mir geflogen. Wie festgefroren steht er auf dem Gehsteig und wirft einen Blick auf die Straße. Als würde er etwas suchen. Oder jemanden.
Was macht er da?
Ich klettere vom Fensterbrett und verstecke mich hinter dem Vorhang, um ihn genau beobachten zu können. Mein Herz trommelt wie ein Presslufthammer gegen meinen Brustkorb. Von meinem Zimmer habe ich den perfekten Blick auf ihn, ohne das er mich sehen kann. Mitternachtsschwarze Haarsträhnen hängen ihm im Gesicht. Er trägt eine Lederjacke und darunter ein zerrissenes, rotes Shirt, das ganz nass vom Regen ist und an seiner Brust klebt. Das Wasser rinnt an seinem Körper herab und bildet am Boden eine dunkle Wasserlache. Im Licht der Straßenlaterne schimmert seine Haut golden, doch in seinem Gesicht sind Kratzspuren zu erkennen. Der Fremde bewegt sich nicht, starrt einfach nur auf die Straße. Es dauert einige Minuten, bis es mir plötzlich klar wird. Blut! Es ist Blut! Sein Shirt ist blutgetränkt.
Schlagartig tauchen Bilder vor mir auf. Bilder, die ich nur in meinen Träumen sehe und die ich versuche mit aller Macht zu verdrängen. Meine Hände voller Blut, das an meinen Händen herabrinnt. Die Panik, die sich wie Eisfinger um meinen Hals legt und zudrückt, solange bis ich nach Luft röchle. Meine Hände beginnen zu zittern und mein Herz rast. Auf einmal wird die Welt um mich herum pechschwarz und ich halte
Weitere Kostenlose Bücher