Abendkuss - Teil I
Vater nach dem wahren Grund unseres Umzuges. Aber außer einem Kopfschütteln, das mich zum Ausflippen brachte, bekam ich keine Antwort. Bis heute nicht. Ich habe keine Ahnung, welcher Teufel meinen Vater geritten hat, aber ich werde den Gedanken nicht los, dass er davongelaufen ist.
Ich sehne mich nach dem Wind, dem Strand und sogar nach dem Meer, obwohl ich nicht einmal schwimmen kann. Das alles musste ich aufgeben für supermoderne Glasarchitekturen, stark befahrene Straßen und diesem widerlichen Gestank. Nach Feuer, Asche und nach verkohltem Fleisch. Manchmal ist es sogar so schlimm, dass ich das Gefühl habe, mir die Seele aus dem Leib kotzen zu müssen. Wenn es also einen Ort auf dieser Welt gibt, den ich mehr hasse als sonst etwas in meinem Leben, dann ist es diese beschissene Stadt.
Mein Herz pocht bis zum Hals. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und binde die Locken im Nacken zu einen Knoten zusammen.
Blut...überall klebt Blut.
Die Erinnerungen schlagen mir jede Nacht ins Gesicht und lassen mir keine Wahl. Ich bin ihnen hilflos ausgeliefert. Als würden sie sich in mich hineinfressen. Aber es sind nicht nur die Bilder, die mich erschrecken. Es ist dieses Lied, das ich immer wieder höre. Es dröhnt in meinem Kopf, selbst wenn ich wach im Bett liege. Es ist, als hätte es sich in mein Gehirn gebrannt.
Im Traum sehe ich das Gesicht meiner Mutter. Anfangs sitzt sie an meinem Bett. Ihr Atem streicht mir über die Wangen – sie riecht nach Himbeeren. Reife, süße Himbeeren. Mama küsst meine Stirn. Schlagartig bin ich wieder fünf Jahre alt und schmiege mich in ihre Arme, während sie mich in den Schlaf wiegt. Danach verschwimmt ihr Gesicht, wie ein Spiegelbild im Wasser, und wenige Sekunden später sehe ich mich am Unfallort. Eingeklemmt in einem Autowrack, begraben unter Glassplittern. Und wieder höre ich dieses Lied. Ich hasse es. Nur Gott weiß, wie sehr ich es verfluche. Es verfolgt mich.
Seltsamerweise spielt mein Gehirn im letzten Teil des Traumes verrückt. Es ist nicht die Stimme meiner Mutter, die ich höre, sondern eine fremde Stimme. Sie klingt tief und geheimnisvoll, aber seltsam vertraut, aber das liegt wohl daran, dass ich mich in den letzten Monaten so sehr an sie gewöhnt habe. Nach dem Unfall wollte mir die Psychologin, die mich therapierte, klar machen, dass mich mein Unterbewusstsein täuschte: „Die Melodie ist nur ein Ausdruck deiner Seele, den Verlust deiner Mutter zu verarbeiten.“ „Aber die Melodie ist so real“, widersprach ich zweifelnd. „Es ist nicht die Stimme meiner Mutter, die ich höre.“ „Das ist ganz normal, mein Kind. Dein Geist verarbeitet den Schmerz auf seine Weise. Es ist der einsetzende Heilungsprozess. Mit der Zeit wird die Melodie und die Stimme aus deinem Kopf verschwinden.“
Diese dämliche Kuh!
Mit aller Kraft schlucke ich die Wut herunter. Im Grunde genommen wollte die Psychotante mir einreden, dass ich mir das Summen nur eingebildet habe und mein Verstand mir einen Streich gespielt hat. Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Ich bin nicht verrückt. Ich bin nur schuldig!
Das Top klebt an meiner Brust, von dem Schweißgeruch wird mir übel. Ich liege mit dem Rücken auf meinem Bett und starre die Decke an. Es ist, als würde sie zu mir hinuntersehen und mich beobachten. Mit der Zungenspitze befeuchte ich meine Lippen und schlucke ein paar Mal, um das Brennen in meiner Kehle loszuwerden. Aber es hilft nichts. Seufzend schlage ich die Decke zurück, steige aus dem Bett und öffne das Fenster. Ein Windstoß bläst mir ins Gesicht und ich schnappe nach Luft, als ich wieder diesen Gestank rieche. Ein stechender Geruch, der mir in der Nase brennt und einen schalen Geschmack auf meinen Lippen hinterlässt. Totes, verbranntes Fleisch.
Widerlich!
Die Straße vor unserem Haus liegt verlassen da. Kein Mensch ist um diese Uhrzeit noch unterwegs. Die leuchtend roten Zahlen auf meinem Wecker zeigen 02.14 Uhr. Die Straßenlaterne vor unserem Haus spendet etwas Licht. Sie flackert in seltsamen Abständen und erinnert mich an Morsezeichen.
S.O.S.
Da fällt mein Blick auf die gegenüberliegende, alte Villa. Als sie im 19. Jahrhundert erbaut wurde, musste der Backsteinbau mit seinen vielen Erkern und dem Spitzturm ein beeindruckendes Gebäude gewesen sein. Nun ist nichts mehr davon übrig geblieben. Durch die eingeschlagenen Fensterscheiben und die Dachziegel, die verstreut im Garten liegen, gleicht das Haus eher einer Ruine als
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