Abendkuss - Teil I
2. Kapitel
Mia
Ich vergesse mich.
Eingefangen in einem Strudel aus Angst und Zorn, Trauer und Schmerz,
wirble ich durch Raum und Zeit.
Vergesse mein Ich.
„Ich“ Gedicht Nr. 3
Blut! Überall klebt Blut! Meine Hände zittern. Ich habe sie nicht unter Kontrolle.
Wo bin ich?
Stück für Stück wandern meine Augen durch den Wagen. Der aufgesprungene Airbag, die zerbrochene Windschutzscheibe. Auf meinem Bauch, meinen Beinen liegen Glassplitter. Die Beifahrertür steht offen.
Was ist passiert?
Ich kann mich nicht erinnern.
Mama?
Der Gurt drückt mir die Luft ab. Ich kann mich nicht bewegen.
Ich muß hier raus!
Mama? Mama, wo bist du?
Mia?
Jemand flüstert meinen Namen, aber es ist nicht meine Mutter.
Oh mein Gott! Wer ist da?
Schritte. Sie kommen näher. Jemand summt eine Melodie.
Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Aufhören! Aufhören!
Die Wagentüre öffnet sich und der Lichtstrahl einer Taschenlampe blendet mich. Meine Augen brennen.
Eine Frau spricht mit mir. Sie geht, um Hilfe zu holen.
Nein! Bleiben Sie hier! Nicht weggehen !
Arme greifen nach mir und zerren mich aus dem Wagen. Stimmen sprechen durcheinander. Ich verstehe nur Bruchstücke.
Unfall. Frau. Tot.
Wer ist tot?
Mein eigener Schrei reißt mich aus dem Schlaf. Keuchend stütze ich mich auf die Ellbogen und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ich schlucke ein paar Mal, um das trockene Gefühl in meiner Kehle loszuwerden. Meine Wangen sind nass, vielleicht vom Schweiß oder von meinen Tränen. Langsam tastet meine Hand am Bett entlang, bis ich endlich den Druckschalter der Nachttischlampe finde. Im ersten Moment kneife ich die Augen zusammen, bis sie sich an das Licht gewöhnt haben. Dann wandern sie durch das Zimmer, als wollen sie mir beweisen, dass ich in Sicherheit bin.
„Nur ein Traum...nur ein Traum. Alles in Ordnung“, wiederhole ich mein tägliches Mantra, aber ich lüge mir in die eigene Tasche. Nichts ist in Ordnung. Mein ganzes Leben ist eine einzige, verdammte Freakshow.
Jeden Morgen wache ich auf und sage mir, dass die Nacht vorüber ist. Es ist, als müsste ich die Worte laut aussprechen, um zu glauben, dass ich eine weitere Nacht überstanden habe. Jede Nacht rede ich mir ein, dass es von nun ab leichter werden wird und die Alpträume verschwinden werden. Aber im Grunde verarsche ich mich jeden Tag aufs Neue. Sie werden nicht verschwinden! Niemals.
Vor drei Monaten bin ich mit meinem Vater und meiner Schwester Leah nach München gezogen. Zurück an jenen Ort, an dem vor zwanzig Jahren die Liebe meiner Eltern mit einer Ohrfeige auf einer überfüllten U-Bahn-Rolltreppe begonnen hatte.
Kurz nach meiner Geburt bekam mein Vater die einmalige Chance die Arztpraxis meines Großvaters Jacob in Westerland, auf der Nordseeinsel Sylt, weiterzuführen und so beschlossen meine Eltern von Süden gen Norden zu ziehen. Dort lebte ich die nächsten siebzehn Jahre meines Lebens bis zu jener Nacht, die alles verändern sollte. Die Nacht, in der ich meine Mutter tötete. Ich habe den Wagen gefahren, ich bin schuld, dass sie gestorben ist. Die Polizisten, die mich im Krankenhaus über den Unfallhergang befragten, sprachen von einem tragischen Unfall. Ein schreckliches Unglück. Die Ärzte wiederum hielten es für ein Wunder. Ich hätte unglaubliches Glück gehabt, meinten sie. Mein zweiter Geburtstag. Ich bin der Meinung, dass liegt im Auge des Betrachters. Für die einen ist es ein Wunder, für mich ist es ein absoluter Alptraum.
Wenige Tage nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte mein Vater unser Haus und seine Praxis verkauft. Sogar unseren Jack-Russel-Terrier Flocke hatte er an eine seiner Patientinnen verschenkt. Mitten in der Nacht packte er unsere Koffer und floh mit Leah und mir nach München. Somit war ich gezwungen meine geliebte Insel gegen die Großstadt einzutauschen- meiner ganz persönlichen Hölle.
Ich hatte noch nicht einmal genügend Zeit mich von meiner Freundin Hanna zu verabschieden. Als wären wir auf der Flucht, fuhr mein Vater mit uns nonstop nach München. Während Leah auf der Rücksitzbank unseres Bullys
Highway to hell
brüllte, löcherte ich meinen
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