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Abendkuss - Teil I

Abendkuss - Teil I

Titel: Abendkuss - Teil I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Loistl
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sie mich zu sich. Ihre knochige Hand hing seitlich am Bett herunter und ich betrachtete ihren dünnen Arm, der durch blaue Adern gezeichnet war. Oma Sofia schaute zu mir hinauf, die Augen nur einen Spalt weit geöffnet. Sie strich mit ihrem Daumen über den goldenen Ring, den ich seitdem ich denken konnte, am Finger trug.
    "Mia", flüsterte sie mit ihrer trockenen Stimme. "Versprich mir, dass du diesen Ring niemals abnehmen wirst. Niemals, hörst du Mia? Versprich es mir!“ Ihre Augen starrten mich an und ihre Stimme nahm bei diesen Worten einen seltsamen Klang an. Dunkel und bedrohlich. Es war, als hätte eine fremde Macht von ihr Besitz ergriffen. Ich warf einen Blick zu meiner Mutter, die mich mit gläsernen Augen anstarrte. Ich schluckte ein paar Mal, nickte dann stumm und rührte mich nicht, obwohl mir in diesem Moment tausend Gedanken durch den Kopf schossen. In dem Augenblick, als sich ihre Augen für immer schlossen, spürte ich förmlich wie der Rest Leben aus ihrem Körper wich. Trotzdem hielt sie immer noch meine Hand und auch, nachdem sie längst gestorben war, drückte ihr Daumen immer noch auf meinen Ring.
     Ich sehe das fahle Gesicht meiner Oma Sofia vor mir, als ich am nächsten Morgen aufwache. Mit  einem dumpfen Knall schlage ich auf dem Teppichboden neben meinem Bett auf. Benommen öffne ich die Augen und sehe in Billies glühende Augen, während er unter meinem Bett sitzt. Auf dem Fußboden sind graue Federn verteilt, an seinen Barthaaren hängt ein Bluttropfen. Während ich noch angewidert darüber nachdenke, welches Tier der Kater noch vor wenigen Minuten getötet haben muss, wischt sich Billie mit seiner Pfote über das Maul, als hätte er meine Gedanken gehört. Ich strecke die Hand nach ihm aus, doch bevor ich ihn erreiche, richtet er sich gelangweilt auf, kriecht unter meinem Bett hervor und schlüpft durch die angelehnte Zimmertür. Aus der Küche höre ich das laute Fluchen meines Vaters und das Klappern von Messer und Gabeln.
    Mühsam richte ich mich auf und werfe einen Blick auf meinen Wecker. Kurz nach sechs Uhr morgens. Zu früh, um bereits nach unten zu gehen, zu spät, um noch einmal einzuschlafen. Das Fenster steht weit offen, obwohl ich mir sicher bin, es letzte Nacht geschlossen zu haben. Ein eisiger Wind weht durchs Zimmer. Die Bettdecke eng um meinen Körper gewickelt, tapste ich zum Fenster und schließe es. Mein Blick fällt auf den Gehsteig vor unserem Haus, aber das Motorrad ist verschwunden. Nichts erinnert mehr an letzte Nacht.  Die ganze Straße sieht genauso aus wie an jedem Morgen. Aus dem Nachbarhaus dringt der Schrei eines Neugeborenen. Die Hausmeisterin holt ihre Tageszeitung aus dem Briefkasten. Ein Pärchen joggt vorbei.
    Ansonsten ist alles wie immer.  Unverändert. Langweilig. Ausgestorben.
     Als ich ins Bad gehe, höre ich meinen Vater immer noch aus der Küche schimpfen und der Gestank von       verbrannter Milch breitet sich im ganzen Haus aus. Ich drehe den Wasserhahn der Dusche voll auf und stelle mich darunter, in der Hoffnung, das heiße Wasser wäscht das dumpfe Gefühl in meinem Bauch davon. Aber es klappt nicht richtig. Zwar fühle ich mich danach ein wenig besser und ich friere auch nicht mehr, aber trotzdem spüre ich immer noch ein mulmiges Gefühl. Nach der Dusche schlüpfe ich in meine Lieblingsjeans, ziehe mir ein rotes Shirt über und binde meine Haare zu einem Zopf zusammen, bevor ich mich auf den Weg in die Küche mache.
     Als ich unten ankomme, sitzt Leah an dem runden Eichentisch mit den vier Holzstühlen, die mit kirschroten Polster bezogen sind. Eines der wenigen Möbelstücke, die mein Vater von unserem alten Zuhause mitgenommen hatte. Als Erinnerung an unser verlorengegangenes Familienleben.
    Leah schiebt sich einen Löffel Blaubeerjoghurt in den Mund und lässt ihn eine Weile stecken, ehe sie ihn       genüsslich abschleckt. Vor ihr auf dem Tisch liegt ihr aufgeschlagenes Biologiebuch, in dem sie blättert. Sie blickt nicht auf, als ich die Küche betrete und es wundert mich auch nicht. Ich könnte mit einer Elefantenkolonne       hereinspazieren und Leah würde nicht einmal mit der Wimper zucken. Mein Vater steht am Herd und wirft schwungvoll einen Pfannkuchen in die Luft. Er lächelt, als er mich sieht und drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
    „Na, gut geschlafen?“ Wir wissen beide, dass es sich um eine rhetorische Frage handelt.
    Ich zucke mit den Schultern und gehe hinüber zum Kühlschrank,

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