Abendkuss - Teil I
sind ihr förmlich ins Gesicht geschrieben. Faszination, Verlegenheit, Überraschung und seltsamerweise Wut. Ich bin es gewohnt, Angst in den Augen der Menschen zu sehen, wenn unsereins seine grausamen Spiele mit ihnen treibt, aber Wut? Einen Augenblick fühle ich mich unbehaglich. So etwas bin ich nicht gewöhnt. Warum hat das Blut sie nicht abgeschreckt? Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Wut in ihren Augen. Ich betrachte sie und wieder ist da dieses Gefühl, dass ihr Blick vorhin in mir ausgelöst hat. Der Drang, sie vor Lilith zu beschützen und ihr das Leben zu retten, ist immer noch stärker als der Impuls, sie töten zu wollen. Sie töten zu müssen, denn das ist der einzige Grund, warum ich hier bin. Meine Bestimmung – das alleine zählt. Ich senke meinen Blick, um mich nicht zu verraten. Die Gedanken wirbeln durch meinen Kopf.
Ich spüre Saras Blick auf mir ruhen und für einen Moment überlege ich, mich ihr anzuvertrauen. Sie würde mich verstehen. Sie ist die einzige, die mir ähnlich ist – meine Vertraute, doch ich verdränge mein Geheimnis in die hinterste Ecke in meinem Kopf. Ich würde sie nur in Schwierigkeiten bringen. „Ich habe einen Fehler begangen und nun ist es an der Zeit, ihn wieder gut zu machen.“ Sara berührt sanft meine Wange und ich sehe Tränen in ihren silbernen Augen schimmern. „Alle suchen dich, Noah. Es ist reiner Selbstmord, dass du hier auftauchst. Ich liebe Dich, aber du musst wieder gehen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie dich finden.“ Selbstmord. Wenn diese Möglichkeit bestehen würde, hätte ich sie bereits in Erwägung gezogen. Verdammt, ich würde mir jede Feder einzeln herausreißen, wenn ich damit eine Chance hätte, endlich diesem Alptraum zu entfliehen. Aber für mich gibt es kein Entkommen. Selbst der Fall aus dem Himmel hat mir nicht geschadet. Wie soll es mir dann möglich sein, mich mit menschlichen Methoden wie Gift oder Waffen zu töten. Ich muss mein Schicksal hinnehmen. Auge um Auge. Zahn um Zahn. So steht es geschrieben. Jahrhunderte habe ich mir bereits den Kopf zerbrochen, wie ich diese Angelegenheit so schnell wie möglich hinter mich bringen kann. Aber dies ist eine Frage, auf die es keine Antwort gibt. Zu minderst nicht, solange ich meine Schuld nicht beglichen habe.
„Ichwerde nicht weglaufen, Sara. Nicht noch einmal. Diesmal werde ich es zu Ende bringen. Hast du Lilith gesehen?“ Sara besitzt die unverwechselbare Gabe, Gefahr zu sehen, die sich in unmittelbarer Nähe befindet. Und Lilith ist definitiv eine Gefahr. Für uns. Aber vor allem für Mia. Qualvoll schlucke ich ein Lachen hinunter. Welche Ironie, dass der Wolf das Schaf vor der Schlange beschützen möchte. Sara streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ein zaghaftes Lächeln umspielt ihre Lippen.
„Letzte Nacht. Ich habe sie gesehen und sofort an dich gedacht. Ich bin so froh, dass du zurück bist, aber ich habe Angst.“
„Es tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe. Aber ich musste mir erst über ein paar Dinge klar werden, bevor wir es nun zu Ende bringe.“
„Bist du dir sicher?“
Und bevor ich Sara fragen kann, was sie damit meint, sehe ich wie ihre Augen zu leuchten beginnen und ein Lächeln sich auf ihren Lippen ausbreitet.
„Lukas, er ist zurück!“ Noch bevor ich die Schritte hören kann, dreht Sara ihren Kopf.
Durch die Eingangshalle des Hauses erkenne ich Lukas am Ende des Ganges stehen. Lukas- mein bester Freund. Mein Bruder.
Ich lasse meinen Blick durch das Haus wandern. Dieser Bunker entspricht überhaupt nicht meinem Geschmack. Nach außen macht es einen heruntergekommenen Eindruck, als könnte jederzeit eine Abrissbirne dem Haus zusetzen, aber innen gleicht es einem Palast. Die Böden sind mit weißem Marmor ausgestattet. Die Decken mit Stuck versehen und erstrecken sich ins Unendliche. An den Wänden hängen Gemälde der großen irdischen Meister. Dali, Monet, van Gogh. In der Mitte des Salons steht ein weißer Konzertflügel.
„Noah, endlich.“ Lukas boxt mir auf die Schulter und wieder einmal wird mir bewusst, was ich Lukas und Sara angetan habe. Ich habe sie verraten. Schon wieder. „Wo bist du gewesen? Wir haben uns Sorgen gemacht. Sara ist fast wahnsinnig geworden, weil wir auf ein Lebenszeichen von dir gehofft hatten. Glaub mir Noah, alleine für ihre Höllenqualen müsste ich dich zum Ringkampf herausfordern!“ Bei diesem Gedanken muss ich Lächeln. Auch
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