Abendkuss - Teil I
hole eine Packung Orangensaft heraus und beobachte dabei meine Schwester.
Leah streicht sich eine Haarsträhne, die dieselbe Farbe hat wie ihre violetten Fingernägel, aus dem Gesicht. Der Träger ihres Shirts ist verrutscht und gibt einen Blick auf ihren nackten Hals frei. Der violett blaue Bluterguss, den ich dort sehe und der perfekt zu ihrem Outfit passt, versetzt mir einen Stich.
Leah schlägt die Beine übereinander und unter dem Tisch sehe ich einen schwarzen Samtrock mit spitzen Stiefeln, die sie knöchellang geschnürt hat.
„Mein Roller ist aus der Werkstatt zurück. Soll ich dich mitnehmen?“ frage ich Leah und setze mich ihr gegenüber an den Tisch. Angriff ist die beste Verteidigung.
„Sehe ich so aus, als wollte ich mich umbringen?“ Sie nimmt einen weiteren Löffel ihres Joghurts und würdigt mich keines Blickes. Ich nippe an meinem Orangensaft und lehne mich in meinem Stuhl zurück.
„Wow, bist du heute wieder gut gelaunt!“ Leah dreht ihren Löffel im Uhrzeigersinn und starrt in ihr Buch.
„Es geht dich zwar nichts an, aber schließlich sollst du ja nicht dumm sterben. Wenn du es genau wissen willst, ich werde abgeholt.“ Misstrauisch starre ich sie an.
„Von welchem deiner zahlreichen Idiotenfreunde? Doch nicht von dem Typ, der tatsächlich glaubt, Gotham City sei die Hauptstadt von Amerika und Batman existiere tatsächlich?"
Leah betrachtet ihre Fingernägel, ehe sie zu mir hinübersieht.
„Du musst es ja wissen, Mia, du bist schon dein ganzes Leben lang mit Idioten zusammen.“ Mit verschränkten Armen lehnt sie sich zurück.“ Aber nur zu deiner Information, es ist nicht Robin, der mich heute abholt. Johannes ist der Glückpilz.“ Leah beugt sich über den Tisch und zischt mit zusammengebissenen Zähnen. „Du bist nur eifersüchtig, weil er besser aussieht als die Typen mit denen du ausgehst. Oh Entschuldigung, ich habe vergessen, dass es derzeit niemanden gibt, mit dem du dich triffst. Und damit du es weißt, Johannes ist absolut himmlisch und…“, sie dreht den Kopf und sieht zu unserem Vater. “Tom findet ihn voll in Ordnung.“ Ich hasse es, wenn Leah unseren Vater bei seinem Vornamen nennt. Ihn stört es nicht. Ich glaube sogar, er ist froh, dass Leah überhaupt mit ihm spricht. Leahs Lippen öffnen sich ein wenig, für einen Augenblick sieht es aus wie ein Lächeln, doch im Grunde genommen ist es nur ein Zähne fletschen. Der glitzernde Strassstein an ihrem Eckzahn fällt mir sofort ins Auge.
Ich werfe einen Blick zu meinem Vater, der mit dem Rücken zu mir am Herd steht und durch das Küchenfenster starrt. Wie eine Statue steht er dort und ich könnte schwören, dass er sich in den letzten Minuten keinen Millimeter gerührt hat. Ich bezweifle sogar, dass er geatmet hat. Ich muss nicht in sein Gesicht sehen, um zu wissen, dass er mit seinen Gedanken weit weg ist. In diesen Momenten, in denen er geistesabwesend seinen Trip in die Vergangenheit unternimmt, sieht und hört er nichts um sich herum. Manchmal frage ich mich, ob ich und Leah in seiner Traumwelt überhaupt existieren.
Es ist seine Art der Trauerbewältigung. In den fünf Phasen der Trauerverarbeitung steckt Paps immer noch tief und fest in Phase eins fest und es wird noch lange dauern, bis er den Tod meiner Mutter akzeptieren und mir verzeihen wird. Zwar hat er mir nie einen Vorwurf gemacht, aber ich weiß, dass er mich für den Unfall verantwortlich macht. Aber damit kann ich leben. Damit muss ich leben. Jeder hat eine andere Art und Weise mit dem Geschehenen klarzukommen. Leah mutierte von dem netten Mädchen von nebenan, das zweimal die Woche zum Ballettunterricht ging und die für ihrem Klavierlehrer schwärmte, zur Gothikqueen. Und während mein Vater sich in sein Schneckenhaus verzog und bis heute darin verharrt, versuche ich mit dem Tod meiner Mutter auf meine Weise umzugehen. Paps dreht sich um und lehnt sich gegen die Küchenzeile, aber es sieht so aus, als benötigte er sie als Stütze.
„Er ist wirklich in Ordnung, Mia. Ich habe mich mit ihm unterhalten. Johannes ist ein intelligenter, junger Mann.“
„Was?“, verwundert sehe ich ihn an. Das ist so ziemlich das Letzte, mit dem ich gerechnet habe. Paps gehört eher zu den Hände-weg-von-meiner-Tochter-Typ. „Paps, ich kenne ihn. Der Typ sieht nicht so aus, als habe er in letzter Zeit ein Klassenzimmer von innen gesehen.“
„Naja,
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