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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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nicht nehmen.« – »Vielleicht hat man ihnen zu wenig geboten.« – »Man darf sich nicht erpressen lassen.« – »Aber vielleicht hätten die Belgier Freude daran gehabt, mit uns zu handeln. Wenn man ein Angebot sofort annimmt, ist das auch eine Art von Unhöflichkeit, finde ich.« – »Aber warum überhaupt Belgien«, warf Kuni ein. »Hätte man nicht direkt in Frankreich einmarschieren können?« – »Nein, hätte man nicht«, sagte die Mutter scharf wie »Halt die Klappe!« – Das Fräulein Stein erklärte: »Weil die Franzosen ihre Grenze zu uns so fest gemauert haben.« – »Die tun nämlich nur so flatterhaft«, schäkerte die Mutter weiter, »in Wahrheit sind sie prüde wie ein Wäschekorb.« – »Und warum überhaupt gegen Frankreich?« beharrte Kuni. – »Warum nicht gegen Frankreich hätte die richtige Frage gelautet, wenn wir in irgendeine andere Richtung marschiert wären«, bekam sie von ihrer Mutter zurück. »Habe ich nicht recht?« – »Eigentlich gegen Rußland«, korrigierte Fräulein Stein schüchtern. »Nur müssen wir zuerst den Rücken frei haben.« Und leise fügte sie hinzu, sie wolle sich für ein Lazarett melden, wenn es im Osten losgehe. Kuni kicherte und erntete dafür einen stummen Verweis ihrer Mutter, eine Handbewegung, als wollte sie eine Tür zudrücken.
    »Das ist sehr tapfer von Ihnen«, rief Tante Franzi mit schicksalhaft vibrierender Stimme aus: »Aber! Aber! Aber!« Sie erhob sich, nahm die Weinkaraffe, ließ ihr Kleid fliegen, umrundete den Tisch und trat hinter ihren Gast. »Zunächst, liebes Fräulein Stein, machen Sie mir die Freude und bleiben Sie heute nacht in meinem Haus. Zur Zeit streichen merkwürdige Individuen durch die Straßen, die meinen, sich schon draußen auf dem Schlachtfeld zu befinden. Und viele fühlen sich zu manchem berechtigt, was ihnen draußen Ehre, hier aber das Zuchthaus einbringen würde. Tun Sie mir den Gefallen, und markieren Sie nicht die Heldin!«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich an das Dienstmädchen, das gerade den Nachtisch hereinbrachte, und befahl ihm, das Gästezimmer herzurichten. Sie hatte wohl mit Widerspruch seitens ihres Gastes gerechnet und sich auf eine neckische Verhandlung eingestellt, und als der Widerspruch ausblieb, wußte sie nicht vor und zurück, und nun stand sie zwischen Rosentapete und glitzernder Tafel, regielos und beschwipst. Carl hatte Mitleid mit ihr, so sehr, daß er hätte weinen wollen. Ihr kurzes, bleifarbenes Haar war von zwei Scheiteln gespalten, in der Mitte streng nach hinten gezogen, an den Seiten zu engen Wellen onduliert, die aussahen, als wären sie aus dem Schädel gemeißelt. Es war still geworden. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck des Wissens um das Ungeheuerliche. Sie reckte den Kopf, Carl guckte in ihre langgestreckten Nasenlöcher und in die unruhigen Augen mit der blauen, dunkel umrahmten Iris, und ihm war, als ziehe eine unsichtbare Hand den bizarren Glanz von dieser Person ab – erst von ihr, dann von den Wänden, von den Böden, von der Oberfläche der imperial gedrechselten Stuhllehnen, dem Goldrandporzellan, den silbernen Messerbänkchen, den Bleikristallgläsern, dem Bleikristalllüster; und darunter kam Abgewohntes, Abgelebtes, Ziel- und Sinnloses zum Vorschein, eine alles durchwaltende Fadheit, schlaues Mittelmaß, eben Ungeheuerliches.
    In einer heftigen Bewegung stellte Tante Franzi die Karaffe ab, nahm den Kopf der jungen Frau zwischen ihre Hände, beugte sich über sie, sagte von oben in das zarte Gesicht: »Aber! Aber! Aber! Was sind Sie für ein schönes kleines Ding und wollen sich an stinkende Soldaten vergeuden!«
    Diesen Satz hatte sich Carl ein Leben lang gemerkt. »Er konnte alles mögliche heißen«, kommentierte er. »Konnte erstens: ein Zitat sein, also ein Scherz. Konnte zweitens heißen: Ich weiß, daß Sie eine barmherzige Frau sind, die verlegen wird, wenn man sie lobt. Konnte drittens heißen: Angesichts der glorreichen vaterländischen Aufgabe, die vor uns liegt, sind wir alle nichts weiter als kleine, unwichtige Fusseln, bei denen es keine Rolle spielt, ob sie schön oder häßlich, wohlriechend oder stinkend, gesund oder krank, mit einer Zukunft begabt oder sinnlos sind – und so weiter, was man damals an jedem Wirtshaustisch eben zu hören und in diversen Illustrierten in gereimter Form zu lesen bekam. Hieß aber doch nur, was es hieß – nämlich: Was bist du für ein schönes kleines Ding!«
    Carl sprach während des Essens

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