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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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nicht ein Wort. Er beobachtete und hörte zu. Manchmal drückte ihm das Fräulein Stein ein Auge. – »Nichts konnte mir etwas anhaben. Sie hatte mir versprochen, daß ich sie morgen wiedersehen würde. Indirekt hatte sie mir das versprochen. Aber versprochen hatte sie mir es. Und wenn sie mir zuzwinkerte, konnte das doch nur heißen: Der Spuk geht vorbei, morgen lassen wir zwei es uns gutgehen.«
    Tante Kuni schien aus dem Rennen zu sein. Als man sich nach dem Essen ins Wohnzimmer begab, buckelte sie sich ins Sofa, stieß Luft aus und rollte mit den Augen wie eine Dreizehnjährige.
    Kuni Herzog zu Pater Frederik Braak: »Selten genug war es vorgekommen, daß ich eine Freundin nach Hause eingeladen habe. Jeder dieser Besuche war damit zu Ende gegangen, daß ich mich wie ein bockiges Kind benahm und sie allein die Szene beherrschte, und meine Freundinnen sagten hinterher, was für ein Energiebündel von Mutter ich doch hätte, wie beneidenswert. Einmal habe ich einen jungen Mann mit nach Hause gebracht, da war es nicht anders, und gleich war es auch schon wieder vorbei gewesen. Meine Mutter fegte mich vom Horizont.«
    Vor dem Fräulein Stein spielte die Mutter die unterhaltsame Schurkin, sie wollte die junge Dame mit dem unschuldigen Gesichtchen schockieren. – Kuni Herzog: »Weil das alte Luder dachte, Schock und Charme kommen bei der Jugend an.« – Sie freue sich auf den bevorstehenden Untergang Europas, rief die Mutter aus, stellte sich mitten ins Zimmer, spreizte die Beine, soweit ihr Kleid das zuließ. »Ich will nie wieder ein Wort Englisch sprechen, bevor nicht die letzte Suffragette aus dem Gefängnis entlassen ist!« – Kuni Herzog: »Und was sollte das bitte heißen? War sie dafür oder dagegen? Oder beides? Oder beides nicht? Und wofür oder wogegen? Meine Mutter war der Meinung, Mehrdeutigkeit lasse auf Intelligenz schließen. Also legte sie sich einen Tonfall zurecht, der nach Mehrdeutigkeit klang. Sie brachte das Fräulein Stein zum Lachen. Sie kam bei ihr an. Sie kam gut bei ihr an. Ich existierte gar nicht mehr für sie.«
    Carl bestätigte Kuni Herzogs Erinnerung: »Der Zirkus, den Tante Franzi aufführte, hatte offensichtlich nur einen Zweck, nämlich ihre Tochter zu demütigen, sie zu beschämen. Das hatte ich schon bei ähnlichen Konstellationen so erlebt. Hinterher hatte sie ein schlechtes Gewissen, und das wiederum gab Tante Kuni die Gelegenheit, ihre Mutter zu demütigen und zu beschämen.«
    Franziska Herzog konnte eine mitreißende Erzählerin sein, sie mußte nur drei, vier Gläser Wein intus haben und jemanden vor sich, der ihr zuhörte. Beide Voraussetzungen waren gegeben. Ihre Hände und Lippen bewegten sich mit aufreizender Rasanz. Sie erzählte von den Reisen, die sie als junge Frau zusammen mit ihrem Mann unternommen hatte, nach London, Schanghai, New York, Tokio und immer wieder nach Deutsch-Südwestafrika, wo, wie sie trällerte, »unsere Tochter wahrscheinlich gezeugt wurde«.
    »Mein liebes Fräulein«, säuselte sie – sie war zum wiederholtenmal hinter den Sessel getreten, auf dem Edith Stein saß, nun schlang sie ihre Arme um ihren Kopf. »Wo waren Sie schon überall auswärts gewesen?«
    »Nur in Polen«, antwortete Edith Stein, »aber das ist ja kaum Ausland, das ist bei uns in Breslau unsere Nachbarschaft.«
    »Polen! Wie langweilig!« hauchte sie ihr ins Ohr, sie hatte inzwischen einen kräftigen Zungenschlag. »Reisen Sie! Verkriechen Sie sich nicht! Paris kennen Sie nicht? Nein? London kennen Sie nicht?«
    »Das ist während des Krieges nicht möglich.«
    »Aber es heißt doch, der wird im Oktober gewonnen sein. Wir dürfen doch hoffen, daß unsere Soldaten die schönen Dinge einigermaßen heil lassen.«
    »Im Oktober möchte ich mein Staatsexamen abschließen.«
    »Philosophieren kann man in Kairo oder Lüderitz genausogut wie in Göttingen oder Breslau, oder etwa nicht?«
    »Reisen kostet Geld.«
    »Nicht, wenn man sich einladen läßt.«
    »Ich denke, mir gefällt eine Wanderung an der Weser entlang besser als eine Dampferfahrt über den Ozean.«
    »Das weiß man erst, wenn man so eine Fahrt erlebt hat.«
    »Man muß nicht alles erleben.«
    »Wer nichts erlebt, der weiß nichts.«
    »Man kann vieles lesen, und man kann sich vieles erzählen lassen.«
    Edith Stein saß in gerader Haltung, ihre Wangen brannten, sie hatte die Beine von sich gestreckt und wippte andauernd mit ihrem Kopf, als wolle sie ihre Gastgeberin anfeuern. Kuni beobachtete sie sehr genau. In ihrem

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