Abendland
sich Carl auf seine Dissertation vor. Sein Thema wählte er tatsächlich aus dem Umfeld der Riemannschen Vermutung. »Hier liegt der Diamant aller exakten Wissenschaft!« Noch als Fünfundneunzigjähriger konnte er sich für dieses Gebiet der Zahlentheorie begeistern. Das Clay Mathematics Institute in Massachusetts, erzählte er mir und bewegte dabei die Finger, als kraule er das Fell eines Bären, habe einen Preis von einer Million Dollar ausgesetzt für denjenigen, der Riemanns Hypothese beweise, und tatsächlich sei der alte Ehrgeiz in ihm erwacht. Er habe sich vor dem Schlafengehen vorgenommen, seine Träume in die Riemannschen Zahlenräume zu lenken und sich dort nach möglichen Allegorien umzusehen. Schließlich sei dem gestrengen, allem Esoterischen abholden Herrn August Kekulé von Stradonitz die ringförmige Anordnung des Benzolmoleküls ja auch im Traum, in Form der germanischen Midgardschlange, begegnet. »Die Mathematik«, erklärte er mir in dem für ihn typischen ironischen Pathos, »ist eine Wissenschaft ohne Skandal. Es wäre paradox, wenn sich die Primzahlen, die Bausteine dieser ordnungserfüllten Welt, so wild und unvorhersagbar verhielten.« Besonders schmerze ihn allerdings, daß inzwischen jeder mittlere Dummkopf Fragen zu diesen mathematischen Wunder- und Rätselgebilden stelle, die selbst ein Genie nicht zu beantworten vermöchte, was, weil seit der Aufklärung eine kluge Frage merkwürdigerweise mehr gelte als eine kluge Antwort, die Hierarchie des Geistes als zu einer demokratischen Ebene abgeflacht erscheinen lasse. – Ich durfte diesen gedrechselten Satz durchaus präventiv auf mich gemünzt verstehen – falls ich vorhätte, mir eigene Theorien zu diesem Thema zurechtzulegen –, sollte ihn aber auch im Spiegel der Ironie betrachten und dahingehend auslegen, daß die gesamte Zahlentheorie nichts weiter als ein Trick der Mathematiker sei, um Verdienst und Erwähltheit vorzugaukeln, wo doch nur der Dünkel hockte; war aber zugleich aufgefordert zu bedenken, daß dieses sokratische Eingeständnis die geistige Überlegenheit der Mathematiker wiederum bestätige … und so weiter; bis ich mich zu guter Letzt, zwischen den Spiegeln der Ironie hin und her geworfen, einem Charakter gegenübersah, der ungefähr so berechenbar war wie das Auftreten der Primzahlen auf dem Zahlenstrahl. – Er fand sich in seiner eigenen Wissenschaft nur mehr schwer zurecht, und die Ironie war der Versuch, dies sich selbst zu verzeihen; sich zu verzeihen, daß er inzwischen selbst ein »mittlerer Dummkopf« geworden war. Ich denke, das ist die Wahrheit.
Emmy Noether betreute Carls Arbeit; ihre Erwartungen waren hoch, seine Ambitionen waren es ebenfalls. Er habe für seine »Doktorvaterin« (sie selbst schlug vor, daß er sie so nenne) die größtmögliche Anzahl von positiven Gefühlen empfunden. Diese Gefühle standen in seinem Herzen wie Soldaten in der Kaserne, Uniform und Haut makellos, weil sie noch niemand ins Feld geschickt hatte. Das heißt, Gespräche, die üblicherweise »persönliche« genannt werden, führten sie (bis auf eine erschütternde Ausnahme) nicht. Konflikte waren also so gut wie ausgeschlossen. Bei aller Kameradschaftlichkeit im Umgang legte Emmy Noether nämlich großen Wert darauf, daß stets eine letzte Distanz gewahrt blieb – daß zum Beispiel brüllendes Gelächter mit Schenkelklopfen ihrerseits nicht als Aufforderung an ihre Studenten gesehen werden wollte, es ihr gleichzutun. Sie war ein Kamerad, kein Kumpan. Die meisten trafen die Grenze nicht, schossen darüber hinaus oder verhielten sich aus Angst davor zu still; beides strengte auf die Dauer an, sowohl die Frau Professor als auch ihre Studenten. Carl dagegen, weil er einen ähnlichen Umgang mit seinen Mitmenschen schätzte, fühlte sich in ihrer Gegenwart rundweg frei (wenngleich manchmal Situationen eintraten, in denen er sich nicht wohl fühlte). »Ein bißchen etwas von dem, was die Norddeutschen einen Schnösel nennen, hatte ich an mir, das muß ich zugeben. Ich war zweiundzwanzig, benahm mich wie ein welterfahrener Vierzigjähriger und hielt fünfundneunzig Prozent der Menschheit für dümmer und höchstens ein Prozent für gescheiter. Und ich konnte ein Gefühl einfach nicht loswerden, nämlich, daß geistige Unterlegenheit nach oben ansteckend wirke, und zwar über autobiographisches Erzählen. Deshalb hielt ich bei fünfundneunzig Prozent der Leute die Luft an, wenn sie vor mir über sich selbst zu reden begannen.« Das
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