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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ist gewiß übertrieben – sollte es wohl auch sein, nicht zuletzt, um zu verdecken, daß er eben doch so dachte und in abgemilderter Form sein Leben hindurch auch dabei geblieben war. Daß Emmy Noether ähnlich wie er niemanden auf Herzensnähe an sich heranließ, hatte andere, gewiß nicht dandyhafte Gründe; im Gegenteil: Arroganz war ihrem Wesen völlig fremd. Sie hatte Angst, am Ende ausgelacht zu werden. Das hätte Carl damals nicht für möglich gehalten; bald aber wußte er es.
    Sie verbrachten täglich Zeit miteinander, entweder standen sie im Seminarraum vor der Tafel, beide eine Kreide in der Hand, oder sie suchten sich gemeinsam aus der Präsenzbibliothek im Mathematischen Lesezimmer Literatur zusammen, oder sie spazierten zum Bismarckturm hinauf oder an der Leine entlang, an warmen Tagen im Sommersemester manchmal bis weit ins Land hinaus. Sie »redeten Mathematik«, wie Emmy Noether sich ausdrückte. »Ihr luzider Geist«, erinnerte sich Carl, »war für ihren Zuhörer auch eine permanente Prüfung der eigenen Integrität. Sie entwickelte aus dem Handgelenk Ideen, die ein anderer zu Höhepunkten seines Denkens erklärt hätte. Einen Tag später hatte sie vergessen, daß sie es gewesen war, die so brillante Ableitungen und Querverbindungen hergestellt hatte. Die Versuchung für ihren Zuhörer, ihre Gedanken als seine eigenen auszugeben, war entsprechend groß.«
2
    Carl freundete sich mit einem Physikstudenten an. Der hieß Eberhard Hametner, war zwei Jahre älter als Carl und stammte ebenfalls aus Wien. Sie boxten im selben Club. Hametner hatte ihn nach einem kurzen, gut gepolsterten Kampf angesprochen, er sei doch am Hegelgymnasium gewesen, er selbst habe das Akademische Gymnasium besucht; er erinnere sich noch sehr gut, Carl habe als Sechzehnjähriger die Erlaubnis der Schulbehörde bekommen, an dem ehrwürdigen Redewettbewerb der Wiener Gymnasien teilzunehmen, zu dem eigentlich nur angehende Maturanten zugelassen waren; eine Woche lang sei in ihrer Klasse über nichts anderes gesprochen worden als über dieses frühreife Rhetorikgenie der Hegelianer. »›Darwin und die möglichen Folgen‹, wenn ich mich nicht täusche?« Carl bat ihn, mit niemandem über die Sache zu sprechen.
    »Hametner«, so charakterisierte Carl seinen Freund, »war ein patenter Bursche, wenngleich ein wenig oberflächlich. Was sich nicht mit Optimismus und guter Laune behandeln ließ, das schob er beiseite. Darin war er mir nicht unähnlich. Und das ist wohl auch der Grund, warum wir bei allem Gleichklang der Interessen, trotz der gemeinsamen Erinnerungen an unser Wien und trotzdem wir beide den Boxsport liebten, doch im Innersten nicht allzuviel miteinander anzufangen wußten. Es fehlte die Spannung. Ich ging ihn, er ging mich eigentlich nichts an. Der Kontrapunkt fehlte, und ich meinte, ich würde nie auf ihn und er würde nie auf mich Einfluß ausüben können. Aber das stimmte nun ganz und gar nicht. Ob und inwieweit ich in seinen Lebensweg eingegriffen habe, kann ich nicht beurteilen, aber er – darüber wurde ich mir erst viel später klar –, er hatte großen Einfluß auf mein Leben – keinen Einfluß auf meine Person, das nicht, aber auf mein Leben.«
    Hametner war – wie fast alle seine Kommilitonen – davon überzeugt, daß er dereinst in die Annalen der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen würde. Die Physiker bewunderten die Mathematiker, weil sie diese im Besitz der Wunderwaffe wähnten, mit deren Hilfe die Schlösser zu den letzten Welträtseln aufgesprengt werden konnten; gleichzeitig belächelten sie sie auch. »Ihr seid euch gar nicht bewußt, wie wertvoll euer Gehirn ist«, sagte Hametner einmal zu Carl. »Und deshalb werden wir Physiker das Rennen machen. In eurem Elfenbeinturm ist zuwenig Platz für ein Stadion mit Aschenbahn, Tribüne und Presse.« Ein durchtrainiertes Mannsbild, nur wenige Zentimeter kleiner als Carl, der sich im Faustkampf mit der Rechten zurückhielt.
    »Zu jener Zeit«, erklärte mir Carl mit einem resignierten Lächeln, »war Göttingen tatsächlich die Welthauptstadt des exakten Geistes, und es gehörte zur Tagesroutine, in den Cafés oder der Mensa oder in der Bibliothek neben einem oder manchmal sogar mehreren Nobelpreisträgern zu sitzen, solchen, die ihn bereits bekommen hatten, und solchen, auf die er noch wartete. Etliche waren darunter, die ihn nur deshalb nicht bekamen, weil er nicht häufiger als einmal im Jahr vergeben wird und die schwedische Akademie ja

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