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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hätte unter dem Dach zwei nette Zimmer für sich allein haben können, hätte nicht einmal ihre Wohnung betreten müssen. Er lehnte ab. »Wir verstehen dich«, sagten sie, sprachen aber nicht aus, was sie damit meinten. Statt dessen nahm er sich in der Stadt ein Zimmer, in der Jüdenstraße, gleich bei der Jacobi-Kirche, neben deren Portal er in der ersten Zeit gern auf der steinernen Bank gesessen habe, um im Don Quixote zu lesen (Carl: »Bezeichnenderweise habe ich mir damals eingebildet, dies sei mein Lieblingsbuch; weil ich nämlich irgendwo gelesen hatte, es sei das Lieblingsbuch aller Genies«) und um den Spatzen zuzuhören, die in dem Efeupelz an der Fassade tschilpten. Seine Vermieterin war eine Kriegerwitwe, die ihn wegen seines wienerischen Tonfalls für einen Adeligen – incognito! – hielt, auf alle Fälle für einen sehr vornehmen Herrn, der herabgestiegen war, um das Studentenleben kennenzulernen. Sie servierte ihm jeden Morgen ein Frühstück aufs Zimmer, wischte täglich den Staub und kramte in seinen Sachen, wenn er nicht zu Hause war.
    Er sei, erzählte Carl, beseelt gewesen von dem Gedanken, wenigstens eines der dreiundzwanzig Probleme zu lösen, die David Hilbert zu Beginn des Jahrhunderts in seiner berühmten Rede auf dem Mathematikerkongreß in Paris als die letzten großen seiner Wissenschaft apostrophiert hatte. Durchaus logisch sei es ihm deshalb erschienen, beim Meister persönlich zu studieren – abgesehen davon, daß die Georgia Augusta ihren Weltruf nun schon seit einem guten Jahrhundert glänzend behauptete: schließlich hatten Carl Friedrich Gauß und Peter Gustav Lejeune Dirichlet hier gelehrt. Und Bernhard Riemann, der mit der Einführung der Zeta-Funktion der Mathematik eine neue Dimension eröffnet und daraus jene Vermutung entwickelt hatte, die seinen Namen trägt und die Hilbert in seinem Katalog als jenes Problem (Nummer 8) bezeichnete, das wohl am längsten auf eine Lösung werde warten müssen. Es ist charakteristisch für Carls Ehrgeiz als Zwanzigjähriger, daß er sich der Zahlentheorie und besonders der Erforschung der Primzahlen zuwandte, deren Abfolge und Berechenbarkeit die Riemannsche Vermutung zum Inhalt hat. – Zu seiner Enttäuschung nahm ihn Hilbert nicht als seinen Studenten; der große Gelehrte war bereits Mitte Sechzig, stand kurz vor der Emeritierung, und sein Bestreben war es immer gewesen, seine Studenten durch ihr gesamtes Studium hindurch zu begleiten. Er war jedoch gerührt von Carls Enthusiasmus und riet ihm (sein ausgeprägter ostpreußischer Akzent machte es dem Wiener schwer, ihn zu verstehen), sich an Frau Professor Noether zu wenden, und schrieb auch eine Empfehlung.
    Emmy Noether war von Hilbert nach Göttingen geholt worden, weil ihn ihre Arbeiten zu Fragen der kommutativen Algebra beeindruckt hatten und, wie er offen zugab, weil er von ihrer Originalität profitieren wollte. Und auch von ihrer Bescheidenheit, die »als Geschenk anbiete, was sonst nur als Beute zu haben sei«. Nachdem sie mit hochgezogenen Brauen Hilberts Empfehlungsschreiben gelesen hatte, sagte sie zu Carl: »Er schildert Sie als einen Amateur. Nicht erschrecken! Das klingt gut. Ein neuer Goldbach womöglich. Wenn Gott mich liebt. Sie sind angenommen.« Nachdem sie erst jahrelang darum gekämpft hatte, sich habilitieren zu dürfen, war ihr nach der Habilitation der Titel eines »ordentlichen Professors« vom preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung verweigert worden (inoffizielle Begründung eines hohen Beamten: »Die erste ordentliche Professorin an einer deutschen Universität soll doch um Gottes willen nicht Sozialdemokratin, Pazifistin und Jüdin in einem sein!«); und so waren ihre Lehrveranstaltungen im Vorlesungsverzeichnis unter Hilberts Namen angekündigt – in Klammern und für Weitsichtige kaum lesbar: »Gemeinsam mit a. o. Prof. Dr. E. Noether« (alle anderen Vornamen in dem Verzeichnis waren übrigens ausgeschrieben).
    Emmy Noether hatte eine widersprüchliche Nachrede. Einerseits galt sie als kameradschaftlich und unkompliziert – sie liebte es, Witze zu erzählen, weniger, sich welche erzählen zu lassen –; wenn sie lachte, konnte man es bis in den letzten Winkel des Auditoriengebäudes hören; sie traf sich mit ihren Studenten im städtischen Freibad oder im Stadtbadehaus am Stumpfebiel oder zum Biertrinken im Gastgarten; andererseits schreckte sie ihre Studenten damit, daß sie, anstatt ihnen fertige, gut abgerundete Resultate mit

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