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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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erprobter Beweisführung vorzusetzen, ihre Theorien in statu nascendi vortrug und sie aufforderte, an der Ausfeilung selbst mitzuwirken, und wenn sich einer dabei ungeschickt anstellte, servierte sie ihn mitleidlos ab; was dazu führte, daß sie ihre Vorlesungen bisweilen zu Hause in ihrem Wohnzimmer in der Weenderstraße abhielt, weil sich so wenige Studenten bei ihr anmeldeten. Carl allerdings war begeistert von dieser Art, Wissenschaft und Lehre in eines zu legen, im Vortrag erst den Gedanken zu entwickeln. »Immer suchte sie nach unkonventionellen Lösungen, und wenn sich keine finden ließen, konnte es vorkommen, daß sie die Kreide auf den Boden warf, darauf herumtrampelte und ausrief: ›Jetzt muß ich es doch so herum anstellen, wie ich es nicht wollte!‹ und dabei fauchte wie ein Teufel. Eine Viertelstunde später unterbrach sie ihren Vortrag und wandte sich an einen von uns, meistens an mich: ›Können Sie mir erklären, was vorhin mit mir los war?‹ Und bat mich, ihr genau zu beschreiben, wie sie sich aufgeführt hatte, und lachte, daß die Scheiben klirrten. ›Was bin ich doch für ein unberechenbares Huhn!‹ Und ohne einen Atemzug dazwischen: ›So, und jetzt weiter in meiner Sache!‹ Als wäre ihr Wutanfall gar nicht ihre Sache gewesen. – Einmal sagte sie zu mir: ›Wissen Sie, Candoris, was das angenehmste an unserer Wissenschaft ist? Daß bei den Objekten der Mathematik Schein und Sein zusammenfallen. 181 ist eine Primzahl, nicht weil sie einer zu einer solchen erklärt hat, sondern weil es so ist. Beruhigt Sie das nicht auch?‹ Das hat mich tatsächlich beruhigt.«
    Frau Professor Noether paßte nicht in die Zeit, die sich so dandyhaft und blasiert gab und sich in einem amoralischen Ästhetizismus gefiel. Zweifellos war sie keine schöne Frau – klein, kurzarmig, halslos, mit einem weichen, jeder Bewegung des Körpers hinterherwalkenden Bauch, der über den Nabel kippte, wenn sie saß. Außerdem trug sie unvorteilhaftes Gewand, worin sie aussah, als lasse sie sich gehen, was ja vielleicht auch der Fall war. Sie hatte einen Watschelgang, der sie gewollt tolpatschig erscheinen ließ, wie ein Kind, das sich letzte Sympathien holen will, indem es den Klassenclown spielt, und sie trug eine Brille, deren Gläser so stark waren wie die Linsen auf Taschenlampen. Sie rasierte sich zweimal in der Woche und hielt ihre Lehrveranstaltungen ungeniert mit Stoppelbart ab. Die Studenten nannten sie »den Noether«. Einmal habe Carl einen Kommilitonen zu einem Faustkampf aufgefordert, weil der sich das Maul über sie zerrissen habe. »Er war ein massiger Nationaler mit Schmissen quer über die Backe«, berichtete er mir mit deutlicher Freude. »Ich war ein schmales Hemd. Er meinte, er müsse nur kurz husten. Er wußte nicht, daß ich boxte. Wenigstens einmal in der Woche trafen wir uns in der Turnhalle in der Geiststraße, lauter so schmale Hemden wie ich. Aber ehrgeizig! Nach dem Kampf hat keiner mehr einen Witz über Frau Dr. Noether gerissen, jedenfalls nicht, wenn ich in der Nähe war.«
    Dabei hatte sie Carl anfänglich auch für einen von diesen Burschen gehalten, die meinten, mit einem Cutaway aus feinem englischem Tuch sei bereits das halbe Studium gewonnen. Sie war interessiert an ihm, weil sie ihn für intelligenter hielt als die anderen, ignorierte ihn aber, und das war nicht zu übersehen und sollte es auch nicht sein. Wenn er der einzige war, der nach einer Frage die Hand hob, konnte es geschehen, daß sie »Aha!« sagte, als wäre da gar keiner. Später einmal sagte sie zu ihm: »Die falschen Fünfziger erkennt man daran, daß sie einem schmeicheln und beleidigt sind, wenn man nicht zurückschmeichelt.« Carl schmeichelte ihr nicht und war auch nicht beleidigt, und seine feinen Anzüge trug er weiterhin. Hätte er sich auch nur ein wenig ihrem Geschmack – der gar keiner war – angeglichen, sie hätte es bemerkt und als Bestechungsversuch gewertet. Nach einem halben Jahr hatte er die Aufnahmeprüfung – zu einer der Vorkammern ihres Herzens – bestanden. Von einem Tag auf den anderen änderte sie ihr Verhalten ihm gegenüber. Ob er ihr Assistent werden wolle, fragte sie ihn. Und das wollte er. Das war natürlich nichts Offizielles, dieses Amt hatte Frau Professor Noether zu vergeben und sonst niemand, aber gerade deshalb war es für Carl eine besondere Auszeichnung. – Albert Einstein soll gesagt haben: »Emmy Noether zerkaute lieber die Lorbeeren, als sie aufzusetzen.«
    Früh bereitete

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