Abendland
nicht ausschließlich aus dem Göttinger Reservoir schöpfen konnte.« – Unter anderem studierten und lehrten damals in Göttingen: Richard Courant, Paul Dirac, Georg Gamow, Enrico Fermi, Edward Condon, James Franck, Wolfgang Pauli, Max Born, Werner Heisenberg und auch der russische Mathematiker Lev Schnirelmann, dem man zu jeder Zeit des Tages und der Nacht in abgerissenem Zustand in den Gassen der Stadt begegnen konnte und der, gerade ein Jahr älter als Carl, in dem nach niemand anderem als nach ihm benannten »Schnirelmannschen Satz« dem Beweis der Riemannschen Vermutung einen gewaltigen Schritt näher gekommen war.
Und dann war da noch Geoffrey Brown, ein manchmal gefährlich spaßiger Schnelldenker mit einem Fuchsgesicht. Er hatte in seiner Heimat England bei Ernest Rutherford studiert und als Assistent in dessen Cavendish-Laboratorium mitgearbeitet. Brown war ein guter Freund von Hametner, und er war der festen Überzeugung, daß der Fortschritt der Physik vor allem dadurch gebremst würde, daß die Physiker keine allzu großartigen Mathematiker seien. Das war auch der Grund, warum er um Carl warb, damit er ihrem Zwei-Mann-Club beiträte. Von nun an ging Carl fremd – so bezeichnete er es vor sich selbst –; er »betrog« seine Doktorvaterin, das heißt: es kam nicht selten vor, daß er, nachdem er zusammen mit Emmy Noether einen langen Spaziergang unternommen hatte, den gleichen Weg noch einmal zusammen mit Hametner und Brown ging. Er konnte sich denken, was sie zu seinen Physikerkontakten gesagt hätte, und etwas Ähnliches sagte sie auch, als er irgendwann das Gespräch auf die Kernphysik brachte, nämlich: »Die betreiben angewandte Mathematik, und das ist Kinderkram.«
Geoffrey Brown war mit einer Studentin aus Manchester zusammen, die nach Göttingen gekommen war, um deutsche Literatur zu studieren. Sie hieß Helen Abelson und hatte, wie Carl sich ausdrückte, »eine tyrannische Art, sich nicht wohl zu fühlen«. Sie begleitete die drei Freunde manchmal auf ihren Spaziergängen. Sie wußte, daß Hametner in sie verliebt war, er hatte es ihr nämlich gestanden, und sie machte ihm ständig Hoffnungen, und das nur, weil sie verrückt danach war, von ihm zu hören, daß er sich zwischen der Loyalität zu seinem Freund und seiner Liebe für die Liebe entscheiden würde. Carl sah, wie Hametner litt, und einmal paßte er sie vor dem Germanistischen Institut ab und stellte sie zur Rede. Carl: »Sie sagte, ich verstehe das völlig falsch, sie sei in Wahrheit nur in mich verliebt. Ich sagte, sie solle den Mund halten oder etwas Ähnliches.«
Eberhard Hametner war Kommunist. Seine Eltern gehörten zwar zum Wiener Bürgertum, und sein Vater war als Besitzer einer Möbelfabrik gar ein Kapitalist. Bereits als Zwölfjähriger hatte er sich für Politik zu interessieren begonnen – Auslöser sei das Attentat des Arbeiterführers Friedrich Adler auf den Ministerpräsidenten Stürgkh gewesen –, und als nach dem Zusammenbruch der Monarchie die Kommunistische Partei Deutschösterreichs gegründet wurde, trat er als einer der Jüngsten bei. Er stritt sich gern mit Geoffrey Brown, der, nur um besser Kontra zu geben, Das Kapital von Marx, Die Dialektik der Natur von Engels und Der Linksradikalismus als Kinderkrankheit des Kommunismus von Lenin las. Carl bezeichnete Hametners Freund einen »komfortablen, insularen angelsächsischen Antikommunisten«, der von sich behauptete, keines seiner Argumente gegen die Linke aus der bürgerlichen oder gar rechten Presse, sondern ausschließlich aus sozialistischen und kommunistischen Schriften zu beziehen.
Wie in etlichen anderen deutschen Universitätsstädten gab es seit Beginn der zwanziger Jahre auch in Göttingen eine Gesellschaft, die, ihren Statuten gemäß, die deutsch-russische Freundschaft pflegte und sich unter anderem zur Aufgabe stellte, sowjetische Wissenschaftler zu Vorträgen einzuladen. In der Villa des Tuchfabrikanten Levin in der Merkelstraße fand so ein Vortrag statt. Vor handverlesenen Gästen unter einer opulenten Stuckdecke sprach Professor Abraham Joffé aus Leningrad. Hametner war Mitglied der Gesellschaft, und es gelang ihm, für Carl eine Einladung zu besorgen. Der Gast erzählte Wunderdinge über die Bedingungen wissenschaftlichen Arbeitens im Sozialismus, ehe er zu seinem eigentlichen Thema kam, nämlich dem Atomkern und den neuesten Versuchen, in denselben einzudringen. Anschließend wurde diskutiert. Emmy Noether saß in der ersten Reihe
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