Abendland
auf wissenschaftlicher Basis, also objektiv; das Wort Weltanschauung sei von nun an, weil subjektiv, obsolet. Beklommenheit und Minderwertigkeitsgefühle drückten Professoren und Studenten nieder. Sie hielten sich einerseits als der hochbegabtesten Gesellschaft zugehörig, andererseits verunsicherte und verbitterte sie die offensichtliche Tatsache, daß sie am internationalen Diskurs nur marginal oder gar nicht mehr teilhatten. Wenn man in den warmen Monaten auf den Hof der Moskauer Universität herabsah, zeigte sich einem ein eigenartiges Bild: Studenten standen beieinander, nie mehr als fünf, nie weniger als drei, sie blickten aneinander vorbei, ihre Oberkörper wiegten sich in nickenden Bewegungen, was auf zufriedenste Zustimmung schließen ließ, ihre Lippen öffneten und schlossen sich, wie sich Lippen bei Gesprächen über Sterne oder Birnen oder antike Wasserleitungen öffnen und schließen mochten; aber wenn man das Ohr auf diese Menschen herabsenkte, hörte man nichts; und wenn man eine Sonde in die Herzen und Hirne dieser Menschen eingeführt hätte, hätte man erkannt, daß sich ihre Lippen auch nicht in stillen Selbstgesprächen bewegten, sondern allein, um die Person unauffällig zu halten, denn auffällig konnte schon jemand sein, der mit anderen zusammenstand und nichts sagte, weil der sich womöglich etwas dachte, was er sich laut nicht zu sagen traute. Als gegen Ende der zwanziger Jahre eine gewisse Liberalität zu keimen begann – zur Blüte brachte sie es freilich nicht –, wurde das kleinste Entgegenkommen als große Freiheit gefeiert – und ausländische Gastprofessoren, nur weil sie eben vom Ausland kamen, als Weltspitzenkapazitäten empfangen. – Haben die Gäste aus Deutschland diese Bedrücktheit nicht wahrgenommen? »Ich schon, sie nicht«, urteilte Carl.
Emmy Noether hielt ihre Vorlesungen auf deutsch, begleitet von einem Dolmetscher – der allerdings nur selten einsprang, die meisten Studenten hatten in der Schule hinreichend Deutsch gelernt. Der Hörsaal war zum Bersten voll. Auch viele Studenten aus anderen Fachbereichen waren gekommen, dazu Interessierte, die gar nicht an der Universität tätig waren – weil sie alle die Frau erleben wollten, »deren Ansehen in der Welt so einzigartig ist« (Vorlesungsverzeichnis WS 1928). Carl saß unter den Zuhörern, seine Assistententätigkeit beschränkte sich darauf, wie in Göttingen mit seiner Doktorvaterin spazierenzugehen und »Mathematik zu reden«. Emmy Noether wohnte in einem winzigen Zimmerchen im Erdgeschoß der Brodnikov-Straße, das entweder frostkalt oder überheizt war; Carl hatte Quartier in dem (relativ) vornehmen Hotel Leonjuk in der Rybnyi-Straße bezogen – was ihm peinlich war, schließlich stand er in der Rangordnung unter seiner Professorin; aber nicht peinlich genug, um auf die Annehmlichkeit beispielsweise einer Badewanne zu verzichten. Die Vorlesungen fanden am späten Nachmittag statt. Jeden Morgen holte Carl Emmy Noether ab, und sie spazierten über die Poljanka, wo sie sich süßes Brot kauften, das sie bei den buntgestrichenen Kiosken zu Limonade, die nach Rasierwasser roch, aßen. Weder der Lärm noch das Gedränge hielten sie ab, nach diesem Frühstück an der Moskwa entlangzugehen oder am Vodootvodnyi-Kanal – erst auf der einen Seite, dann über eine Brücke und weiter auf der anderen Seite und über die nächste Brücke und wieder auf der einen Seite weiter, bis sie sämtliche Brücken passiert hatten. Bald verwandelte der Winter alle Menschen in dicke und wenig schöne Geschöpfe.
Mit drei Personen unterhielten die beiden während ihrer Moskauer Monate engeren Kontakt. Der erste war der Dolmetscher Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin. Er sprach wortreich Deutsch mit Moskauer Akzent. Wo er es so gut gelernt hatte, wußte niemand. Er war ein immer angenehm riechender Mann, von kurzem, kompakt stämmigem Wuchs, dunkelhaarig, wohlgenährt, glattrasiert; er interessierte sich für Kunst, Musik, Literatur, Theater ebenso wie für Physik und die neueren Tendenzen in der Sprachwissenschaft und schien jeden zu kennen, von den akademischen Kapazitäten bis zu den Limonadenbudenbetreibern unten an der Moskwa. »Der kleine neue Mensch«, so wurde er genannt, sich selbst bezeichnete er als einen Epistemologen. Er verstand alles, lehnte nichts ab, interessierte sich für alles, fand nichts nicht der Rede wert, schien keinerlei Vorurteile zu haben, erlaubte sich allerdings auch nie ein Urteil und war der höflichste
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