Abendland
sich besser unterhalten.
»Worüber sollten wir uns unterhalten?« fragte Carl. Die Treppen, die nach unten führten, waren von Schnee überweht, so daß man die einzelnen Stufen nicht sehen konnte. Carl kannte die Stelle, der Weg am Wasser entlang endete nach ein paar hundert Metern, dort hätten sie wieder über eine Treppe hinaufsteigen müssen. »Spielen Sie mir Theater vor?«
Pontrjagin ergriff sein Handgelenk. »Ist es noch weit?«
»Erst möchte ich, daß Sie mir sagen, was Sie von Frau Professor Noether wirklich wollen?«
»Ich kann mir denken«, entgegnete Pontrjagin etwas atemlos, obwohl er sich nicht von der Stelle rührte, »daß Sie sich wundern, weil ich nicht weiß, wo Frau Professor Noether wohnt …«
»… wo Sie doch genau wissen, wo ich wohne«, ergänzte Carl sarkastisch.
Pontrjagin ließ Carls Hand nicht los. »Ich denke mir«, sagte er, »wir beide sollten zuerst unseren Kasus bereinigen, bevor ich mit Frau Professor Noether rede.«
Er war nicht mehr betrunken, und Carl vermutete, er war es auch in der Halle des Hotels nicht gewesen. »Was haben wir beide denn für einen Kasus?« äffte er ihn nach.
»Als ich im Hotel auf Sie wartete, dachte ich mehr über Sie nach als über Frau Professor Noether. Frau Professor Noether ist eine bemerkenswerte Wissenschaftlerin, aber sie ist kein komplizierter Mensch. Ein Bedürfnis nach Rache ist ihr sicher fremd. Und daß jemand sogar Lust auf Rache empfinden könnte, daß er sich eine Beleidigung sogar wünscht, nur um einen Grund zur Rache zu haben, das würde sie nicht verstehen können. Wenn sie ja sagt, meint sie ja, wenn sie nein sagt, meint sie nein. Dagegen in Ihrem Denken, mein lieber Doktorand, spielen die Worte ja und nein gar keine Rolle, außer zu dekorativen Zwecken. Allerdings glaube ich auch nicht, daß Rache Ihnen etwas bedeutet. Sie mögen es, sich etwas gutschreiben zu können. Destruktive Affekte stören. Carl Jacob Candoris verliert nie die Contenance. Er hat Zutritt zu jedem Haus. Nirgends ist er fehl am Platz. Überall wird er erwartet. Nicht überschwenglich, aber mit Respekt. Seine liebste Temperatur liegt um die fünfzehn Grad Celsius. Er mag es kühl. Eigentlich ein Geschäftsmann. Aber ich glaube, auch das ist nur Schein. Ich glaube, ich kenne Sie besser.«
»Warum haben Sie mir im Hotel einen Betrunkenen vorgespielt?«
»Ach, hören Sie! Das ist doch leicht zu erraten. Man verzeiht dem Betrunkenen mehr als dem Nüchternen.«
»In Rußland vielleicht.«
»Werden Sie nicht chauvinistisch! Alle Welt liebt die Romane von Tolstoi, und Tolstoi war ein Trinker. Wußten Sie das nicht?«
»Das wußte ich nicht.«
»Ich bedaure, daß wir zwei uns nicht schon im September letzten Jahres gekannt haben! Wir hätten gemeinsam zu den wunderbaren Feierlichkeiten nach Jasnaja Poljana fahren können! Sie wären begeistert gewesen. Die vielen Menschen! Die Farben! Die Menschen haben sich mit Dingen geschmückt, die ihnen längst nichts mehr bedeuteten. Was für ein wunderbarer Ort! Alle Welt liebt Tolstoi. Leider lag Gorki schwerkrank in Moskau. Er hätte die Hauptansprache halten sollen. Aber Lunatscharskij hat ihn überaus würdig vertreten. Seine Rede hätte Ihnen gefallen. Er hat auch Tolstois Religiosität gewürdigt. Obwohl unsere Sowjetunion ein atheistischer Staat sei, zeige die Regierung Delikatesse gegen alle religiösen Überzeugungen. Im Gegensatz zur Zarenregierung. Aber was, wenn die Menschen die Religion nicht mehr wollen? Wenn sie all die Devotionalien, die sich in ihren Häusern angesammelt haben, loswerden wollen? Soll man den Menschen etwa Religion befehlen, nur damit das Ausland keinen Grund hat, uns zu verleumden? Carl Jacob! Wie wäre es, wenn Sie und ich im Frühling nach Jasnaja Poljana führen? Sie bräuchten sich um nichts zu kümmern, ich würde alles organisieren. Als Gegenleistung für mein unhöfliches Benehmen. Vielleicht haben Sie recht, und Tolstoi war gar kein Trinker. Aber Beethoven war einer, und Ihr Mozart war, soviel ich weiß, auch einer. Darum verzeihen wir ihnen ihr Genie und hören ihnen um so lieber zu. Haben Sie nie darüber nachgedacht?«
»Und euer Stalin, ist er auch ein Trinker?« Es war ein matter Versuch von Carl, in die Kerbe zu hauen, die Aszaturow geschlagen hatte.
Eine Weile behielt Pontrjagin seine Hingerissenheit im Gesicht. Schließlich sagte er: »Sie enttäuschen mich ein wenig, Carl Jacob.«
»Halten Sie Ihr Angebot noch aufrecht, Lawrentij Sergejewitsch?« fragte Carl.
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