Abendland
wohnen ist eine Aufgabe, die jeden Tag aufs neue gelöst werden muß. Und das läßt unsereins doch irgendwie glücklich sein, habe ich recht?«
Sie goß einen Teil des Wassers in einen schwarzen Eisentopf, den stellte sie auf den Ofen.
»Das zum Beispiel ist mein Schreibtisch.« Sie griff hinter das Bett und zog ein Nudelbrett hervor. »Ein Geschenk von Frau Dr. Sixarulize. Wenn man sich erst daran gewöhnt hat, will man nichts anderes mehr. Versuchen Sie es!« Sie reichte ihm das Brett. »Stellen Sie die Füße auf die Bettkante, und legen Sie das Brett auf die Knie. Im Rücken wärmt der Ofen. Auf dem Fensterbrett wartet eine Tasse Tee. Nichts, was ablenkt. Ksenia hat mir versichert, so habe Wilhelm Grimm unsere schönen Märchen niedergeschrieben. Wenn das so ist, was soll man dagegen sagen?«
»War Frau Dr. Sixarulize schon einmal hier?«
»Ja, freilich.«
Sie schnürte ihre Stiefel auf und gab ihnen einen Tritt. Auf dem Boden hatte sich eine Wasserlache ausgebreitet. Sie zog das Handtuch von dem Gestänge hinter dem Ofen und legte es darüber und setzte sich aufs Bett, die Füße steckte sie unter die Bettdecke.
»Wir könnten, bis das Wasser heiß ist, eine Zigarette rauchen, wenn Sie welche haben«, sagte sie.
Carl hatte aus Deutschland reichlich Tabak mitgebracht, und jeden Morgen, bevor er sein Zimmer im Leonjuk verließ, drehte er sich drei Stück für den Tag. Eine war noch übrig. Er reichte sie ihr hinüber und zündete ein Streichholz an.
»Und Sie?« fragte sie.
»Ich sehe Ihnen dabei zu.«
»Wir können sie gemeinsam rauchen. Ich verspreche, daß ich das Mundstück nicht zerkaue.«
Sie paffte nur. Der Tabak roch nach Vanille. Inzwischen hatte sich der Ofen aufgeheizt. Carl zog den Mantel aus und öffnete sein Jackett. Das Wasser dampfte. Er reichte ihr Teekanne, Sieb und Teedose, und sie goß auf. Er nahm einen kräftigen Zug von der Zigarette und warf den Stummel in den Ofen.
»Ich habe leider nur eine Tasse«, sagte sie. »Wenn es Sie nicht stört, trinke ich aus dem Schnabel der Kanne. Aber zuerst schenke ich Ihnen natürlich ein.«
Sie erzählte. Erzählte tatsächlich von sich. Zum erstenmal, seit sie sich kannten. Erzählte von ihrer Kindheit in Erlangen. Kein Wort über Mathematik. Sie sei kein besonders ansehnliches Kind gewesen und pummelig. Aber in ihren jungen Mädchenjahren sei sie schlank gewesen, und es sei ihr oft gesagt worden, wie herzig sie aussehe. Was ihr egal gewesen sei. Lieber wäre sie nämlich eine gute Turnerin gewesen. Ihre größte Angst hieß, über den Bock zu springen. Sie übte mit ihrem Bruder Fritz Bockspringen. Er buckelte sich, sie schlug mit ihren Händen auf ihm auf und grätschte über ihn drüber. Im Gymnastikunterricht aber, zu dem sie auf Anraten des Arztes von ihrer Mutter geschickt wurde, vergaß sie alles und traute sich nicht; sie nahm Anlauf und bremste und stieß gegen den Bock und prellte sich böse die Rippen. Sie besuchte die Höhere-Töchter-Schule in dem etwas heruntergekommenen Adelspalais in der Friedrichstraße 35 – einer Adresse, die die Herzen aller Erlangener Eltern, die aus dem Leben ihrer Töchter mehr herausholen wollten, habe höher schlagen lassen, denn nur dort sei große Bildung für kleine Frauenzimmer geboten worden. Emmy konnte das Palais nicht leiden, unten roch es nach Moder, oben nach Kreidestaub. Einmal habe sie sich darin verirrt. Sie war in der Zehn-Uhr-Pause über die Stiegen hinaufgelaufen, und der junge Studienrat Fasser war ihr auf den Stufen entgegengekommen, das Physikbuch in der Hand, ein sturer Spitzbauch, der den deutschen Kaiser ablehnte und dem preußischen König nachtrauerte, und sie, weil sie in ihrer Eile nur vor sich nieder auf den Boden schaute, sah ihn nicht und rammte in seinen Bauch wie in den Bock im Turnsaal, und er schlug ihr das Physikbuch über den Kopf. Der Studienrat hatte sie nämlich für irgendein Mädchen gehalten. Er war außer sich, als er sah, daß sie die Emmy war, nämlich die Tochter des wirklich ehrwürdigen Professors Max Noether, bei dem er sein Rigorosum abgelegt hatte. Er entschuldigte sich bei Emmy, wie er sich nicht einmal bei einem Erwachsenen entschuldigt hätte, wiegte dabei den Oberkörper wie ein Rabbi beim Kaddisch und schichtete Pyramiden von Schachtelsätzen über ihrem schmerzenden Kopf auf. Sie war so verwirrt, daß sie nur »Danke!« sagte und weiter über die Stiege in den zweiten Stock hinaufrannte. Aber sie vergaß, was sie dort gewollt hatte, und rannte
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