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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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»Daß ich Ihnen einen Preis für die Beleidigung nennen soll?«
    Pontrjagin vollführte einen höfischen Knicks. Carl holte aus und schlug ihm die Faust mitten auf den Mund – eigentlich nur deshalb, weil er ihn nicht ein zweites Mal »ein wenig« enttäuschen wollte.
    Der kleine Mann rührte sich nicht. Staunend blickte er Carl gerade in die Augen, das Blut quoll aus den Lippen und färbte das Kinn und tropfte auf seinen Mantel.
    »Das führt Sie zu keinem guten Ende«, sagte er leise und fügte mit kräftiger Stimme hinzu: »Erstaunlicherweise und entgegen der Meinung, die ich noch vor einer Minute über Sie geäußert habe, tun Sie doch Dinge, die sich auf Ihrem Konto nicht gutschreiben lassen, Carl Jacob Candoris.« Er griff in die Manteltasche, zog ein großes Taschentuch hervor und hielt es vor den Mund.
    Carls Hand brannte, der Schmerz stach in den Ellbogen hinauf und setzte sich bis unter die Achsel fort. Er fürchtete, ein Knochen könnte gebrochen sein. Wenn er die Finger spreizte, hätte er aufschreien wollen. Seine Gedanken überschlugen sich und breiteten in Geschwindigkeit verschiedene Szenarien vor ihm aus, schieden Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem und sortierten die Elemente des Wahrscheinlichen nach der Qualität der Gefahr, die ihm drohte. »Das ist eben mein Preis für eine Beleidigung«, preßte er trotzig hervor und versuchte erst gar nicht, selbst daran zu glauben.
    »Wer hat Sie denn beleidigt?« fragte Lawrentij Sergejewitsch.
    Der Schlag war härter ausgefallen, als Carl beabsichtigt hatte. Er hatte Pontrjagins Wange treffen wollen. Beim Aufprall hatte er den Widerstand der Zähne auf den Knöcheln gespürt. Das Blut sickerte durch das Taschentuch und fiel in langen Fäden vor dem Mann in den Schnee.
    »Tun Sie Schnee auf die Lippe«, sagte Carl, »dann hört es gleich auf.«
    Pontrjagin kniete sich nieder und rieb sich das Gesicht mit Schnee ein. Gleich war der Schnee um ihn herum voller Blut. »Ich vertrete die Auffassung«, sagte er, und es klang sogar heiter, »es wäre anständig gewesen, mich nicht in dieser Weise zu überraschen. Wenn Sie ein anständiger Mensch wären, Carl Jacob Candoris, hätten Sie mich zu einem Boxkampf aufgefordert.« Er häufte Schnee in das Taschentuch und band die Enden zusammen, erhob sich, legte den Kopf in den Nacken, drückte sich diese Kompresse auf Nase und Mund und redete munter weiter, was nun so klang, als habe er einen Schnupfen: »Ich hätte mich ehrenhalber nicht gewehrt, aber ich wäre wenigstens vorbereitet gewesen.« Und fügte hinzu: »Sie brauchen mich jetzt nicht mehr zu Frau Professor Noether zu führen.« Er wischte seine Rechte am Mantel ab und hielt sie Carl hin: »Leben Sie wohl, Carl Jacob Candoris!«
    Lawrentij Sergejewitsch stand nahe beim Treppenabgang, hinter ihm eine flimmernde Wand aus Schneeflocken. Carl schlug noch einmal zu, diesmal mit der unverletzten Linken und nicht gegen das Gesicht von Lawrentij Sergejewitsch, sondern gegen dessen Brust, und hinter diesen Schlag legte er das Gewicht seines Körpers. Lawrentij Sergejewitsch kippte über die oberste Stufe und fiel. Carl hörte den Aufschlag auf dem dünnen Eis und hörte das Wasser, als das Eis brach.
    Er wartete, bis sich die Stille in seinen Ohren wieder eingeschaukelt hatte, dann blickte er über das Geländer nach unten. Er konnte nichts erkennen. Rasch drehte er sich um und ging eiligen Schritts zum Hotel zurück.
8
    »Mir war ein bißchen übel, daran erinnere ich mich sehr gut«, schilderte mir Carl, was in ihm vorgegangen war. »Ein Gefühl der Getrenntheit von allen Dingen wurde mächtig in mir. Ich schätzte Pontrjagin auf Anfang der Dreißig. Bei Ausbruch der Revolution war er also um die Zwanzig gewesen. Aiaja hatte mir zu verstehen gegeben, daß die Mitglieder der Tscheka, der Außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage – laß mich probieren, ob ich es noch kann: Tschreswytschajnaja komissija po borbe s kontrrevoljuzijei i sabotashem –, daß sie allesamt ein überaus höfliches Auftreten gehabt hatten und daß sie einen um so höflicher behandelten, je näher ihr Finger beim Abzug war. Vielleicht war Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin als junger Mann ein Tschekist gewesen? Möglich war das. Und wenn er überlebt hatte, war die Wahrscheinlichkeit, daß er nach Auflösung der Kommission von der GPU übernommen worden war, nahe eins. Vermutungen. Tatsache allerdings war: Ihm stand der größte Büroraum am Institut

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