Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
amerikanischen Zigaretten und kubanischen Zigarren – letztere spendiert von Ernest Hemingway. Abraham rührte nichts an. Er beantwortete ihre Fragen, aber nur, soweit sie sich auf den Prozeßverlauf und die ohnehin bekannten biographischen Daten der Angeklagten bezogen. Über »Persönliches« sprach er nicht. Die Damen und Herren waren ratlos, ärgerten sich, glaubten, Abe wolle sie an der Nase herumführen, wolle Geld schinden. Er verbeugte sich und rannte davon. Der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg nahm ihn an einem der folgenden Tage beiseite, entschuldigte sich für seine Kollegen, redete ihm aber doch ins Gewissen: Abe, in seiner Position als Prozeßpsychologe, sei vor der Weltgeschichte verpflichtet mitzuhelfen, daß das Seelenleben dieser Bestien publiziert werde. Und wurde endlich konkret: Abe solle ihn als seinen Assistenten ausgeben und ihn bei seinen Besuchen in den Zellen der Angeklagten mitnehmen. Abe schüttelte den Kopf. Dem amerikanischen Schriftsteller John Dos Passos, der für das Life Magazin über den Prozeß berichtete, gelang es, Abe für eine kurze Zeit so etwas wie Freundschaft vorzugaukeln, er verlor aber rasch die Geduld und hielt ihm ein Bündel Dollars vors Gesicht, und Abraham, tief enttäuscht, sagte auf deutsch: »Um Gottes willen!« Die Presseagenturen RCA Mackey, Press Wireless und Tass versuchten gemeinsam Druck auf ihn auszuüben, man werde bei der amerikanischen Militärregierung in Bayern bewirken, daß er seines Postens enthoben werde, wenn er sich nicht kooperationsbereit zeige. Abraham blieb standhaft. Er erlaubte niemandem, sich als seinen Assistenten auszugeben und ihn zu den Angeklagten zu begleiten – mit einer Ausnahme … Über jedes Gespräch, das er mit Hermann Göring, Joachim von Ribbentrop, Hans Frank, Ernst Kaltenbrunner und den anderen Naziverbrechern führte, verfaßte Abraham ein gewissenhaftes Protokoll. Wirklich viel Geld sei ihm nach dem Prozeß für diesen Packen Papier geboten worden, erzählte Carl. Abraham Fields aber schenkte seine Aufzeichnungen verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Instituten und Forschungsstätten. (Das besonders umfangreiche Dossier über Arthur Seyß-Inquart, der als Reichskommissar für die besetzten Niederlande für die Deportation von Edith Stein nach Auschwitz verantwortlich war, überließ er dem Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie in Amsterdam. Es hätte neben den Gesprächen, die ich mit Abe geführt hatte, meiner Dissertation als Grundlage dienen sollen – so jedenfalls Carls Plan für meinen »exzellenten akademischen Start«.) Ein Kollege von ihm, der ebenfalls während des Prozesses in Nürnberg tätig war und der später ein berühmtes Buch darüber schrieb, nannte ihn in einem Interview einmal den »Nürnberger Thukydides« – ein Titel, auf den Abraham sehr stolz war und über den er sich bis zu seinem Lebensende freute.
2
    Carl bezeichnete Abe als den besten Freund, den er in seinem Leben gehabt habe. Wahrscheinlich war er auch sein einziger. (Mein Vater war nicht sein Freund, er war mehr: Mitglied der Familie.)
    Und so hatten sie sich kennengelernt: Zusammen mit der Journalistin, an deren Namen sich Carl nicht mehr erinnerte, hatte Abe im Frühling 1935 die Oak Bar betreten, um ihn für die Fahrt nach Kinnelon abzuholen. Die Journalistin hatte sich bei Abe eingehängt und zog ihn hinter sich her. Carl saß in der Ecke unter einem der wuchtigen Gemälde von Everett Shinn. Er glaubte nicht einen Augenblick lang, daß die beiden ein Paar waren. Er wunderte sich, daß die Frau, ohne zu zögern, auf ihn zusteuerte, als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Sie stellte zuerst Abe vor – »Student der Psychologie, Freudianer« –, anschließend sich selbst: Sie sei eine Feindin von Adolf Hitler und Reporterin beim New Yorker und habe diese Stelle auf Empfehlung einer Freundin von Dorothy Parker bekommen, eine Stelle sei es ja eigentlich nicht, sie arbeite auf freier Honorarbasis, was aber auch sein Gutes habe … und so weiter. Ihr gehörte der braune Packard mit dem cremefarbenen Stoffdach. Es war ein warmer Tag, und sie bestand darauf, mit offenem Verdeck zu fahren. Carl saß hinten im Fond. Während der Fahrt legte Abe seinen Arm über die Rückenlehne und sprach nur nach hinten zu Carl; er kam zwar selten zu Wort, denn meistens redete die Journalistin, aber auch wenn sie redete, blickte Abe nicht sie an; er hatte Augen allein für Carl. Abraham Fields war homosexuell.
    Als sie in der Nacht nach der

Weitere Kostenlose Bücher