Abendland
das bekannteste Bild von ihr, ihre Ikone. Sie hatte es anfertigen lassen als Paßfoto, kurz bevor sie nach Holland geflohen war. Carl hatte Abe oft von Edith Stein erzählt. Abe war tief beeindruckt gewesen, immer wieder hatte er diese Geschichten hören wollen, die ihn, wie er sagte, in die Zauberwelt des romantischen Deutschland trugen. Die darin auftretenden Personen seien ihm ans Herz gewachsen – die eifersüchtige Tante Kuni, die wilde Tante Franzi, der tapfere kleine Carl Jacob und vor allem der Engel. In seinem Kopf hätten sie zusammen mit der schönen Loreley, mit Dornröschen, dem Sandmann, dem Peter Schlemihl, dem gestiefelten Kater und all den anderen sozusagen seine deutsche Familie gebildet. Nach dem Krieg, in Nürnberg, habe er erfahren, daß der Engel gar nicht Mitglied im romantischen Club des »ewigen Sonntages im Gemüte« gewesen, sondern daß er in der deutschen Wirklichkeit gelebt hatte und in Auschwitz ermordet worden war. Als ihm Carl Anfang der sechziger Jahre am Telefon berichtet habe, daß ein Verfahren zur Heiligsprechung von Edith Stein vorbereitet werde, habe er ihn gebeten, ihm ein Bild von ihr zu schicken. »Manchmal schaue ich sie an und bete ein wenig zu ihr. Das erquickt mich. Am liebsten bete ich den Rosenkranz auf deutsch. Das ist eine Spinnerei, ohne Zweifel. Aber es gilt, denke ich. Wenn eine deutsche Jüdin aus einer heute polnischen Stadt als katholische Märtyrerin heiliggesprochen werden soll, darf auch ein atheistischer amerikanischer Jude den deutschen Rosenkranz beten. Wer wollte dagegen ein Verfahren anstreben?«
Abraham Fields hatte deutsche Vorfahren (die hießen Felder). Deutsche Kultur und deutsche Geschichte interessierten ihn seit seiner Jugend. Neben dem Psychologiestudium an der Columbia Universität baute er die Kenntnisse unserer Sprache aus, an den Abenden im Studentenheim las er Effi Briest, die Duineser Elegien und die Traumdeutung . Zu den Freunden seiner Studienzeit zählte jenes jüdische Emigrantenehepaar aus Berlin, das später nach Kinnelon in New Jersey gezogen war. Als sie noch an der East Side in einer kleinen Wohnung in einem der öden Klinkerblocks wohnten, hatte er die beiden regelmäßig besucht; es milderte ihr Heimweh, wenn sie sich mit ihm in ihrer Muttersprache unterhielten, und er verfeinerte dabei seine Artikulation.
Als die Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg eintraten, meldete er sich bei der Army und wurde als Dolmetscher bei Verhören gefangener deutscher Offiziere eingesetzt. Er beherrschte unsere Sprache so gut, daß er fürchtete, er könnte bei seinen eigenen Leuten Mißtrauen erregen, und unterlegte ihr deshalb absichtlich einen amerikanischen Akzent. Nach dem Zusammenbruch des Nazireichs wurde er vom IMT, dem Internationalen Militärtribunal, als Gerichtspsychologe zum Prozeß gegen Göring, Heß, Streicher, Schirach, Jodl, Dönitz und die anderen nach Nürnberg gerufen – als psychologischer »Begutachter«. Vom 14. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 besuchte er an allen Verhandlungstagen und meistens auch an den verhandlungsfreien Sonntagen die Angeklagten in ihren Zellen oder saß bei ihnen in den Speisesälen. Er hörte sich ihre Kommentare an, ihre Lügen, ihre Prahlereien, ihre panischen Rechtfertigungen, ihre durchsichtigen Schmeicheleien, blickte ihnen stoisch auf die Stirn, wenn sie ihm drohten, ließ sich von ihnen die Hand halten, wenn sie weinen wollten. Er befragte sie nach ihren Ansichten über den Prozeßverlauf, über die anderen Angeklagten, die Richter, die Anwälte, die Ankläger. Legte ihnen IQ-Fragebögen vor, bat sie, ihre Kindheitserinnerungen in kleine Novellen zu fassen. Sprach mit ihnen über Gott und die Welt. Seine eigene Zeit verbrachte er möglichst allein. Er kaufte einem ausgebombten angeblichen Installateur – auch dieser hatte auf der Straße seine Siebensachen vor sich ausgebreitet – einen Lötkolben ab und eine Rolle Lötzinn dazu, sammelte Blechdosen und Glassplitter und bastelte seine Schmuckkästchen. Journalisten und Berichterstatter aus allen Ländern der Welt waren hinter ihm her, wollten von ihm »Persönliches« über die Angeklagten erfahren. Sie hofierten ihn, luden ihn schließlich zu einer »internationalen Pressekonferenz« in das Schloß der Bleistiftfirma Faber-Castell ein, das von den Besatzungsbehörden als Unterkunft für die Presseleute hergerichtet worden war. Sie improvisierten ein Buffet mit französischen Pasteten, russischem Wodka, englischem Kuchen,
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