Abendland
meine Stunde haben wir ein Eis gegessen. Er ist ein charmanter Kerl, natürlich ein heilloser Aufschneider. Und leider einer, der sich dauernd beim Angeben erwischen läßt. Aber so gescheit! Er hat sich nach Ihnen erkundigt, Carl Jacob. Sie beide haben sich ja besonders gut verstanden, hatte ich immer den Eindruck.«
»Mehr weiß ich nicht«, beendete Carl seine Erzählung. »Bis heute nicht. Die Unschuld ist weniger eine Frage der Moral eines Lebens als der Dauer eines solchen. Je mehr Jahre sich häufen, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, die Unschuld zu behalten. Lange genug habe ich geglaubt, ein Mörder zu sein, lange genug, um mich mit diesem Gedanken vertraut zu machen, und lange genug, um mich mit diesem Gedanken auszusöhnen – was ja nichts anderes als ein geschwollenes Wort für ›sich daran gewöhnen‹ ist. Amerika hat mir dabei geholfen. New York liegt weit weg von Moskau, Mitleid nimmt mit der Entfernung ab, das Gefühl der Schuld nicht weniger. Pascal hatte recht: Ein Meridian entscheidet über Gerechtigkeit und Wahrheit. Was auch immer damals am Vodootvodnyi-Kanal geschehen war, ich wollte es gar nicht so genau wissen. Ich war wieder aufgenommen in den Club der einigermaßen Zivilisierten. Natürlich war ich erleichtert. Leopardi, der fürwahr ein kranker Hund war, sagte, man spüre sogar Schmerz, wenn ein peinvoller Zustand aufhört, eben weil man sich an ihn gewöhnt hat. Und ich mußte mich erst wieder an den Gedanken gewöhnen, kein Mörder zu sein … – Nun aber, Sebastian, wollen wir zu Bett gehen.«
Siebtes Kapitel
1
Abraham Fields war ein Begeisterter. – Er wurde 1911 in New York City geboren, dort wuchs er auf, dort starb er. Kleine Hände hatte er, blasse, weiche Hände. Aber nicht ungeschickte Hände. Er bastelte gern. Was er bastelte, war zierlich, Dinge für den Schreibtisch oder für eine Frisierkommode, Schmuckkästchen zum Beispiel, nicht größer als eine Zigarrenkiste, manche so klein wie eine Zigarettenschachtel. Aus dem weißen Blech von Konservendosen bog er sie zurecht, verlötete sie, verzierte sie mit Einritzungen und Glassplitterchen, roten, grünen, weißen, die er einfaßte wie Rubine und Saphire und Diamanten. Innen legte er die Kästchen mit Stoffetzen aus, die färbte er mit verdünnter Tinte oder Tee und unterfütterte sie mit Wollflaum. Siebzehn Stück. Er hat sie alle nacheinander seiner Schwester geschickt. Die war älter als er, lebte in Chicago; sie hatte ihren Mann bei der Invasion in der Normandie verloren. Die Post der amerikanischen Armee sorgte für prompte Zustellung. Fünfundzwanzig Jahre später, nach dem Tod seiner Schwester, nahm er die Kästchen wieder zu sich. Als ich Abraham Fields im Herbst 1976 in New York besuchte, zeigte er sie mir. Sie standen auf seinem Steinway-Stutzflügel aufgereiht, eines neben dem anderen entlang der Kante in exakt gleichem Abstand. Ich beugte mich zu ihnen nieder, sie zu berühren getraute ich mich nicht. Mr. Fields reichte mir eine Lupe, und ich betrachtete die winzigen eingeritzten Ornamente. »Mit der Spitze eines Zirkels«, erklärte er mir. »Einer unserer Offiziere hatte auf der Straße in Nürnberg mit einem deutschen Oberstudienrat eine Dose Corned beef gegen einen Zirkel getauscht, und ich redete so lange auf den Offizier ein, bis ihm klar wurde, daß er ja gar keinen Zirkel brauchte, und er ihn mir schenkte.« Hinter den Kästchen war eine Galerie kleiner Stehrahmen arrangiert. Schön wäre es, sagte Mr. Fields, wenn zu jedem Kästchen eine Person gehörte, aber leider gebe es nicht siebzehn Menschen, die für sein Leben wichtig seien oder wichtig gewesen seien. Deshalb dürften manche in mehreren Kästchen wohnen. Auf drei Bildern erkannte ich Carl – auf einem, ich schätzte, dreißigjährig, Unkle Sam mimend, schiefes Grinsen, Zylinder auf dem Kopf, den Zeigefinger auf den Fotografen gerichtet; das andere war ein Schnappschuß vor einem blühenden Baum im Central Park, Carl in einem Tweedmantel, an dem, deutlich zu erkennen, der mittlere Knopf fehlte; das dritte, aufgenommen irgendwann nach dem Krieg oder während der letzten Monate des Krieges, wie Mr. Fields kommentierte, zeigte Carl zusammen mit Margarida auf der Fähre nach Staten Island, im Hintergrund die Freiheitsstatue. – Und dann stand hier auch ein Bild von Edith Stein. Das Bild kannte ich von Carls Schreibtisch. (Es hängt auch in der Zelle meiner Mutter, wie sie mir erzählte.) Es zeigt sie in der Tracht ihres Ordens. Es ist
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