Abendland
nicht in den glücklichen, eher wohl in den dunklen Augenblicken der anderen eine Rolle. Als er in Amerika war, sei ich es gewesen, der ihm am meisten gefehlt habe. Meine Mutter erzählte mir auf unserem Spaziergang nach seinem Tod, er habe sich einmal bei ihr über mich beklagt, daß er nicht herausfinden könne, was ich wolle, daß er manchmal Zweifel habe, ob ich überhaupt etwas wolle. Entweder ich trage meine Wünsche zu spitz oder zu trocken vor oder zu unvermittelt oder zu obenhin – Evelyn sagt das. Wenn er etwas wollte, brüllte er. Thelonius Monk hatte er in New York kennengelernt und Gerry Mulligan und auch Barney Kessel, vor dem er sich so gefürchtet hatte und den er im Chelsea Hotel zu einem Duell traf, das eindeutig zu seinen Gunsten ausging (was sich überprüfen läßt, die Session wurde nämlich auf Tonband aufgenommen und erschien irgendwann in den siebziger Jahren bei dem winzigen New Yorker Jazzlabel Kuykendall Records auf Platte). Er arbeitete im Riverside-Studio, dem damals modernsten Studio der Welt. Wes Montgomery spielte dort zusammen mit dem Wynton-Kelly-Trio einige Nummern ein. Wes sei ein vornehmer feiner Hund, erzählte er, er habe ihm seine Daumentechnik erklärt. »Immens fulminant, aber letztendlich zu umständlich.« Eines Tages kam Chet Baker ins Studio, er stellte gerade eine neue Band zusammen, und er lud meinen Vater ein, ihm vorzuspielen. Mein Vater stach alle Konkurrenten aus, er bekam das Engagement und zog fünf Monate lang durch die Jazzclubs der Ostküste und der Westküste. Und so kündigte ihn Baker dem Publikum an: »George Lukasser, der neue Charlie Christian!« Mein Vater brachte einen Sportsack voll Bänder aus Amerika mit. Ich habe sie mir alle auf CD brennen lassen. Die schönste Aufnahme ist die, auf der er und Chet Baker Cole Porters Night and Day im Duett singen – die erste Strophe a cappella, in der zweiten Strophe die Melodie einstimmig auf Gitarre und Trompete spielen, dabei auch in den Verästelungen ihrer Improvisationen exakt beieinanderbleiben und erst ab der Hälfte der letzten Strophe, wenn Baß, Piano und Beserlschlagzeug einsetzen, in zwei verschiedene Stimmführungen auseinandergehen.
7
An meinem ersten Tag führte mich Abraham in einen kleinen Park direkt am East River. Eigentlich war es gar kein Park, sondern ein einzelner Ahornbaum mit einer weiten Krone, um den herum ein paar Bänke aufgestellt waren. Die Bronzefigur eines Wildschweins stand dort, lebensgroß, übersät mit in Erz gegossenen Fingerabdrücken des Künstlers. Der Zugang zu dieser Oase sah aus wie ein Privatweg, und während der zwei Stunden, die wir dort verbrachten, betrat kein anderer Besucher den Platz. Abraham stieg gleich in medias res, erzählte, daß er die Angeklagten gebeten habe, eine eindrückliche Kindheitserinnerung in eine kleine Erzählung zu fassen; nicht die Wahrheit sollten sie niederschreiben, sondern einen literarischen Text verfassen. Er habe freie Hand gehabt zu experimentieren, sagte er, und in den Diskussionen, die er noch vor Nürnberg mit Kollegen an der Columbia geführt habe, habe sich in ihm die Überzeugung verfestigt, daß in besonders schweren Fällen der Wahrheit nicht direkt ins Auge geblickt werden könne; daß ein Frank, ein Kaltenbrunner und ein Seyß-Inquart der Wahrheit näherkommen, wenn man von ihnen fiction statt facts verlangte. Er, Abe, habe dieses dialektische Wechselspiel von Verdrängung und Aufdeckung und deren synthetische Aufhebung in der Fiktion als Metapher für die Wahrheit den Perseus-Komplex genannt, in Anspielung auf den antiken Helden, der der schrecklichen Medusa den Kopf abgeschlagen, sie dabei aber über seinen spiegelglatten Schild angeschaut habe, weil ihn der direkte Blick versteinert hätte. Er habe auch einen Aufsatz in einer sehr renommierten Zeitschrift für Psychologie darüber geschrieben, der Begriff habe sich aber nicht durchgesetzt, Abe Fields sei eben nicht Sigmund Freud.
Keine fünfzig Meter nördlich des Parks setzte die Queensboro Bridge zum Sprung über den East River an. Der Anblick der Eisenkonstruktion, die sich streng und verspielt zugleich, halb Tortenverzierung, halb Kathedrale, über dem Ufer erhob und im Licht des späten Nachmittags all ihre grazilen Einzelheiten preisgab, überwältigte mich, und Abraham bemerkte es: »Hat es diese wunderschöne Brücke verdient, daß Ihre Erinnerungen an sie von diesen Nazigeschichten überschatten werden?«
»Nein«, sagte ich.
»Hat es die Stadt
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