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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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über der Schlucht von 42nd Street zu sehen. Wie, wenn dies alles mein täglicher Anblick wäre? »Es ist schwer, in wenigen Sätzen eine Meinung dazu abzugeben«, sagte ich und präzisierte unnötigerweise: »Mir jedenfalls fällt es schwer, in wenigen Sätzen eine Meinung dazu abzugeben.«
    Abraham musterte mich, kaute, schluckte seinen Bissen hinunter, legte das Besteck in den Teller und sagte: »Wenn ich sogar bei ›Du sollst nicht töten!‹ nachdenken muß, haben moralische Maßstäbe ihre Verbindlichkeit verloren. Finden Sie nicht auch?«
    Ich schämte mich. Er sah es und schämte sich nun seinerseits. Ich wünschte, dieser Mann hätte eine gute Meinung von mir. Ich wünsche mir noch heute, daß er sich in den anderthalb Jahren, die er noch lebte, mit ungetrübter Sympathie an mich erinnerte.
    »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er. »Mein Vorschlag: Wir nehmen uns an den Vormittagen Zeit für Ihre Arbeit. Ich bitte Sie, über mich zu verfügen. Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß. Ich werde Ihnen ein Empfehlungsschreiben für das Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie mitgeben, und Sie können, wann immer Sie Lust dazu haben, nach Amsterdam fahren und frei nach Ihrem Belieben meine Aufzeichnungen einsehen – über meine Gespräche mit Seyß-Inquart, mit seiner Frau, seiner Tochter, seinem Anwalt Dr. Steinbauer und mit dem damaligen Erzbischof von Utrecht, Johannes De Jong, der einer der lustigsten Menschen war, die ich je getroffen habe. Aber ich hoffe, wir werden auch noch Gelegenheit finden, über andere Dinge zu sprechen. Ich möchte Ihnen ein paar Freunde vorstellen, die allesamt nichts mit Seyß-Inquart und seiner Zeit zu tun haben, die nicht einmal wissen, wer dieser Seyß-Inquart war, und es gar nicht wissen wollen und auch nicht wissen sollen, wie ich meine.«
    Eines Nachts war mein Vater nach Hause gekommen, hatte mich aus dem Bett gehoben, in die Küche getragen – ich war bald dreizehn und nicht kleiner als er! – und hatte meiner Mutter verkündet: »So! Sie haben die Lassithi Dreams gehört. Konitz und Tristano sind schuld. Man ist begeistert. Sie legen ein Angebot auf den Tisch. Ich fahre hinüber und schau, ob es wahr ist. Und wenn das wahr ist, dann! Ich glaube, es ist soweit!« Amerika! – Amerika! – Die Arme auf dem Küchentisch verschränkt, Mutter, Vater, Sohn. Auswandern! Ein Traumwort. Amerika! »Auf meinem Ruder werden wir uns ein neues Leben aufbauen!« Dieser Satz gefiel ihm so gut, daß er ihn hundertmal durch unsere Wohnung brüllte. Das Ruder war seine Gitarre. »Scheißruder« oder »altes Ruder« oder »Hurenruder« oder »verdammtes Scheißhurenruder«. In seinem Hirn surrten die Maschinen einer Traumfabrik. Ein Ast des Kirschbaums wuchs so nahe an das Fenster meines Zimmers heran, daß ich die Nase in die Blüten stecken konnte. Als Sommer war, wartete ich auf Kirschen. Aber die Amseln holten sie, ehe sie reif waren. Er kaufte früh am Morgen eine große Tüte auf dem Markt und hängte Zwillinge und Drillinge an die Zweige, kitzelte mich wach und sagte, es habe sich »ein Naturwunder ereignet«, der Baum habe über Nacht Kirschen wachsen lassen, »extra für dich«, was sich damit beweisen lasse, »daß sie ausschließlich an dem Ast vor deinem Fenster wachsen«. Als er aus Amerika zurückkam, wurde über Auswandern nicht mehr gesprochen. Alles zerbrach, nahm einen logischen, natürlichen, furchtbaren Verlauf. Zerbrach an dem raffinierten Geschick meines Vaters, immer das Falsche zu tun. Wir zogen aus Wien fort. Mein Vater unterrichtete Musik an einem Gymnasium und fluchte auf die Schule, sie werde von Idioten geleitet und habe keinen anderen Zweck, als Idioten heranzuzüchten. Er legte seine Hand auf meinen Hinterkopf und drückte mich an seine Brust. »Schlechte Noten sind ein gutes Zeichen«, sagte er. Ich fühlte mich nicht getröstet. Er meinte nicht mich. Er meinte sich selbst. Ich hatte nie schlechte Noten. Der Boden unter seinen Füßen war endgültig eingebrochen. Es dauerte noch fast zehn Jahre, bis er darin versank, und es waren auch zufriedene Jahre darunter. Meine Mutter, die vorher vor den zu hohen Zielen ihres Mannes Angst gehabt hatte, hatte nun Angst, daß er diese Ziele aufgab. Über jeden Menschen, den wir kannten – Carl ausgenommen –, hatte mein Vater schon mindestens zehnmal gesagt, er bringe ihn oder sie um, und jedesmal hatte sich mein Magen verkrampft, weil ich dachte, was wird dann aus mir. Wir spielen vielleicht

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