Abendland
ich schob meinen Arm unter seinen und drückte ihn gegen meine Seite, und er ließ mich gewähren. Stellen Sie sich das vor, nach so vielen Jahren! Richard Strauss, der Soundtrack für mein Glück! Und was für Ausschweifungen hat er sich einfallen lassen! ›E-Dur und D-Dur in Schmerzen vereint!‹ Daß Elektra am Ende vor lauter Jubel verrückt wird und sich vor lauter Verrücktheit zu Tode tanzt, kam mir allerdings etwas überdreht vor. Aber schließlich war ich im Land Sigmund Freuds, der dem Todestrieb mehr Macht zugestanden hat als dem Sexualtrieb. Aber anstatt mich selbst zu vergessen und mich der Musik hinzugeben, habe ich mich von Jakes Rasierwasser ablenken lassen. Wie ich mich heute dafür hasse! Astrid Varnay als Elektra! Herbert von Karajan am Pult! Die Wiener Philharmoniker im Graben! Was haben Sie im Sommer 1964 gemacht, Sebastian?«
»Da waren wir noch in Wien.«
»Oh, wir hätten uns auf der Straße begegnen können.«
»Meine Mutter und ich haben auf meinen Vater gewartet. Daß er aus Amerika zurückkommt, um uns zur Auswanderung abzuholen.«
»Ich habe etwas, das wird Ihnen gefallen«, sagte er und nahm eine Platte aus dem Regal.
Und so saß ich bereits an meinem zweiten Tag in New York bis spät in die Nacht hinein in Abraham Fields’ living room auf der Chaiselongue mit den handtellergroßen Phantasieblumen und hörte Maria Callas als Norma in der – wie mir Abraham versicherte – legendären Aufnahme aus dem Mailänder Cinema Metropol von 1954. Diese Musik sollte jeden meiner weiteren Abende in New York ausklingen lassen; denn entgegen den Plänen, die ich mir zurechtgelegt hatte, verbrachte ich die meiste Zeit gemeinsam mit meinem Mentor.
»Leider wird die Norma an den großen Opernhäuser kaum mehr gespielt«, klagte er. »Wer soll sie singen nach der Callas? Zum Glück wird sie nicht gespielt! Und mit Donizetti ist es nicht anders. Würden Sie Lucia di Lammermoor nach Maria Callas von einer anderen Sängerin hören wollen?«
»Ich habe diesbezüglich leider keinen wirklichen Überblick«, sagte ich.
Spät in der Nacht begleitete mich Abraham Fields zurück in mein Hotel in die 42. Straße im Osten von Manhattan und machte sich Vorwürfe, daß er so fahrlässig mit dem tiefsten Geheimnis seines besten Freundes umgehe, und mit wie zum Gebet gefalteten Händen flehte er mich an, nie, nie, nie Carl davon auch nur ein Wort zu verraten.
Jeden Morgen frühstückten wir gemeinsam – in meinem Hotel oder in einer der Cafeterias um den Washington Square oder in einem Coffeeshop an der Upper Westside, oder wir spazierten bis zur Mitte der Brooklyn Bridge, wo wir uns auf eine Bank setzten und Bagles aßen und Kaffee aus der Thermosflasche tranken. Anschließend führte er mich durch das Museum of Modern Art, durch die Public Library – im Schatten der steinernen Löwen saßen wir auf der Treppe und rauchten seine Zigaretten mit den goldenen Filtern. Er fuhr mit mir – »weil sich das so gehört« – mit dem schnellsten Lift der Welt zur Aussichtsplattform des Empire State Building hinauf und in einem Touristenschiff um Manhattan herum. Die meisten Abende aber verbrachten wir in seiner klimatisierten Wohnung 55th Street Ecke Sutton Place South. Er zeigte mir voll Stolz seine Bibliothek, die wohl an die zehntausend Bände umfaßte. Am liebsten lese er in der Küche, sagte er. Auf dem Eßtisch stapelten sich drei Bände Standard Edition of the Complete Psychological Works von Sigmund Freud, Doctrines and Covenants des Mormonenpropheten Josef Smith, ein Band mit Essays von Montaigne, ein Buch auf deutsch über den heiligen Paulus, die Bibel auf englisch in der Übersetzung von William Tyndale, die Äneis von Vergil, Rot und Schwarz von Stendhal, ein Buch über Helden und Heldenverehrung von Thomas Carlyle und eine prachtvolle, in Ziegenleder gebundene Ausgabe von The Paradise Lost . »Als Milton dieses Wunderwerk schrieb«, sagte Abraham und ließ mich den Band in meinen Händen wiegen, »war sein Sohn tot, war er mit seinen Töchtern zerstritten, waren ihm zwei Ehen zerbrochen, hatte er das Augenlicht verloren, war sein öffentliches Ansehen entehrt und waren seine Freunde von einer ungerechten Justiz ermordet oder ins Exil vertrieben worden.«
Abraham arbeitete ehrenamtlich bei einem Sozialprojekt in Brooklyn mit. Seine Arbeit bestehe darin, schwarze Jugendliche zu coachen, damit sie vor Gericht nicht in die Fallen tappen, die ihnen der Richter stellt. Er habe sich inzwischen an den
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