Abendland
Hotel ebenfalls, und er hat mir auch ein Taschengeld mitgegeben. Ich widersprach nicht einmal anstandshalber. Und meine Mutter ebenfalls nicht.
Abraham Fields stand unten in der Halle des Tudor Hotels, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Als er mich aus dem Fahrstuhl treten sah, hob er fragend den Kopf, und als ich nickte, schritt er mir, ohne die Hände vom Rücken zu nehmen, den Oberkörper weit vorgebeugt, entgegen. Seine Bewegungen waren schnell, sparsam, gezielt. Er schlug mir sanft gegen die Oberarme, drückte meine Hand. Ein schüchternes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und die Hände verschwanden wieder in seinem Rücken. Er hatte lichtes, weißes Haar, das knapp über dem Ohr gescheitelt war. Kaum sichtbar unter den festen Brauen saß eine randlose Brille. Seine Wangen waren etwas schlaff, das erzeugte den Eindruck von Nachgiebigkeit. Dazu im Kontrast klang seine Stimme rauh und sehr amerikanisch. Trotz der Hitze war er im Anzug gekommen, klassisch sportlich geschnitten, Sakko mit Dragoner und Golffalte, Hemdknopf und Schottenkrawatte waren nicht gelockert. Die Hosenbeine waren kurz, darunter trug er Halbstrümpfe, grün mit roten Rauten. Ein auf etwas spaßige Art eleganter Mann Mitte der Sechzig. Er sprach in kurzen, klaren Sätzen, sagte, es bereite ihm Freude, wieder einmal Deutsch zu sprechen, und wenn ich nichts dagegen hätte, wolle er gern dabei bleiben. Immer wieder ließ er eine Pause, trat einen Schritt zurück und betrachtete mich lächelnd und, wie mir schien, mit Genugtuung, so als wollte er sagen: Das ist also aus dir geworden! Er sagte »Sie« zu mir, aber Sebastian. Ich nehme an, Carl hatte ihm am Telefon ausführlich und sicher nur das Beste von mir erzählt. Als wir im Taxi saßen, sagte er, er würde es schätzen, wenn auch ich ihn bei seinem Vornamen nenne.
Er führte mich in ein italienisches Restaurant in der Second Avenue Höhe Central Park Süd. Während wir unsere Gnocchi aßen, fragte er mich, wie es Carl und Margarida gehe, erkundigte sich nach meinem Studium, sagte, er habe von Carl gehört, ich wolle Schriftsteller werden, fragte, welches meine deutschsprachigen Favoriten seien, ob bei uns Lyrik noch gelesen werde und ob ich eine Erklärung habe, warum die neue deutsche Literatur sich an allen möglichen Literaturen ein Vorbild nehme nur nicht an der alten deutschen Literatur. Nach meinem Vater fragte er nicht. Durch die Fenster des Restaurants sah ich die Fassade des Plaza Hotels (das ich von einem Foto kannte, das bei Carl hinter dem Schreibtisch an der Wand hing), ein Stück vom frühsommerlichen Laub des Central Park und darüber einen Himmel, so blau, wie ich ihn nur aus den Bergen kannte. In meiner Vorstellung war mir die Stadt immer in sonnenlosem Zwielicht erschienen. Bis hierher hatte ich mich gewünscht, und nun wünschte ich mich nicht weiter. Wie Wimpernschläge blitzten durch meinen Kopf der Wunsch, allein zu sein, und gleich darauf der Wunsch, mich unter all diesen Menschen hier zu verlieren, eine Nuance in dem kolossalischen Farbkasten zu werden. Ich trug eine braune Lederjacke mit wollenem Kragen, erstanden in einem Secondhand-Laden in Frankfurt am Main, zusammengenäht in U.S.A . Und wenn sich herausstellte, daß mehr gar nicht nötig war? Seit mich meine Mutter, Carl und Margarida in Innsbruck zum Bahnhof gebracht hatten, hatte ich keine Spur von Trauer mehr in mir gefunden. Mein Vater war geliebt worden, ich war in gewisser Weise auf seinem Weg, das beruhigte mein Gewissen.
»Es interessiert mich«, sagte Abraham, »was ein junger Österreicher über das heutige Deutschland denkt.« Ich glaubte zu wissen, was er meinte. Wenn in diesen Tagen Deutschland in den internationalen Schlagzeilen auftauchte, dann wegen Andreas Baader und Gudrun Ensslin und ihrer Rote-Armee-Fraktion, vor allem aber wegen Ulrike Meinhof, die sich erst ein paar Wochen zuvor in ihrer Zelle in Stammheim erhängt hatte. »Ich spaziere einmal in der Woche die Park Avenue hinunter zum Waldorf Astoria, dort liegen im Frühstücksraum die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung und der Spiegel aus. Wie beurteilen Sie diesen neuen deutschen Terrorismus?«
Was interessierten mich Meinhof, Bader, Ensslin, Raspe, Mahler, Meins und wie sie alle hießen! Ich war in New York! Ich war vor die Tür meines Hotels getreten, hatte nach links geschaut und den schönsten Wolkenkratzer der Welt gesehen, das Chrysler Building. Ich hatte im Taxi den Hals verrenkt, um den Himmel
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