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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verdient?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Also reden wir nicht weiter darüber! Alles, was Sie für Ihre verdammte Doktorarbeit brauchen, finden Sie in Amsterdam. Was geht Sie eigentlich das Leben dieses Mannes an?«
    Statt dessen erzählten wir uns gegenseitig aus unserem Leben. Wir schlenderten durch den Central Park, und ich erzählte von meinem Vater. Daß ich so ein schlechtes Gewissen hätte, weil ich nie aufmerksam gewesen sei, wenn er mir seine Musik erklären wollte; weil ich immer ungeduldig gewesen war und die Augen verrollt hatte; daß ich immer gewußt hatte, daß ihm kein Lob mehr bedeutete als meines, und trotzdem hatte ich es nicht über mich gebracht.
    Abraham lud mich in seine Wohnung ein, hörte mir zu, kochte für mich, legte eine Schallplatte auf. Er habe zu seiner eigenen Überraschung die Oper für sich entdeckt, sagte er. Er sei es gewesen, der Jake von der Oper und der Klassik abgebracht habe, und nun habe er Oper und Klassik für sich entdeckt. Zur Zeit höre er ununterbrochen Elektra von Richard Strauss, allerdings müsse er dabei allein sein, später einmal könne er sich diese Musik vielleicht zusammen mit jemand anderem anhören, zur Zeit sei er noch nicht soweit, noch habe er die physische Seite von Begeisterung und Erschütterung nicht im Griff und wolle niemandem zumuten, ihm dabei zuzuschauen. Er schaltete alle Lichter aus bis auf eine Stehlampe, und dann erzählte er mir von dem Abend, als er Carl verführt hatte. Ebendiese Stehlampe habe er aus seinem Schlafzimmer in die Küche getragen, wo Carl auf dem Sofa gelegen habe. Sie gebe ein weiches, facettenreich mit den Schatten spielendes Licht. Er habe sich auf die Kante des Sofas gesetzt und versucht, seinen Körper in Position zu bringen, so daß Carl vor allem sein Profil zu sehen bekäme. Er habe einen beeindruckenden Römerkopf, das wisse er, das sei ihm Dutzende Male bescheinigt worden, der allerdings in einem – wie er sich nüchtern eingestehen müsse – unschönen Kontrast zu der beinahe mädchenhaften Zartheit seines Körpers stehe; was andererseits, und auch das sei ihm von verschiedenen Seiten versichert worden, Charakter mache. Interessant sei doch nur das Antagonistische: treu, lauter, aufrichtig und all das auf eine bedingungslos grausame Art: ein Mann zur Freundschaft geschaffen, auch über die Liebe hinaus, wo Treue sich zu einer barbarischen Tugend wandeln könne. Er habe zu Carl gesagt: Nennt dich irgend jemand Jake? Ist es dir recht, wenn ich Jake zu dir sage? Ich denke, es ist gut, wenn ich Jake zu dir sage. Vielleicht schämst du dich ja hinterher. Dann ist es gut, wenn du so tun kannst, als wärst du ein anderer gewesen.
    »Ein paar Jahre später, Anfang der fünfziger Jahre, kurz bevor Eisenhower zum erstenmal zum Präsidenten gewählt wurde, besuchte er mich in New York. ›Ich habe ein Geschenk für dich‹, sagte er. Wir mieteten ein Auto und fuhren nach Princeton, und dort stellten wir uns am Nachmittag gegen fünf in der Wiese vor dem Institute for Advanced Study hinter ein Gebüsch und warteten, bis zwei Männer, der eine im schwarzen Mantel mit dunklem Borsalino, der andere in hellem Mantel mit Wollmütze, das Gebäude verließen und über den Wiesenpfad spazierten. ›Das sind Kurt Gödel und Albert Einstein‹, flüsterte er mir zu. ›Schau, wie sie gehen und denken!‹ Es war, als hätte er mich ins Museum eingeladen oder in die Oper. Hat Jake Ihnen von unserer gemeinsamen Elektra erzählt?«
    »Ich weiß jetzt nicht genau, was Sie meinen. Ich glaube aber, nein.«
    »1964 in Salzburg. Bei den Festspielen. Er hat mich eingeladen. Hat angerufen und gesagt: ›Abe, mein Lieber, es ist an mir, mich zu revanchieren, ohne dich hätte ich nie Billie Holiday erlebt.‹ Er hat gesagt: ›Abe, mein Lieber.‹ Genau so hat er sich ausgedrückt. Und ich bin ins Flugzeug gestiegen und habe nichts anderes denken können, als daß wir beide auf unsere alten Tage vielleicht doch noch zusammenfinden. Geglaubt habe ich es nicht. Aber gehofft habe ich es. Alles, was auf der Bühne und im Orchestergraben geschah, habe ich auf mich bezogen. Wer dran leidet und nicht das Mittel findet, sich zu heilen, ist nur ein Narr. Ich finde mir heraus, was bluten muß, damit ich wieder schlafe. – Und als Elektra in ihren Jubel ausbricht, weil Aegisth und Klytämnestra gemordet sind – Ich trag’ die Last des Glückes, und ich tanze vor euch her –, hätte ich am liebsten mit eingestimmt. Jake saß zwischen Margarida und mir, und

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