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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ist es, denke ich, zu spät dafür. Und wenn wir es doch versuchen, setzen wir uns dem Verdacht aus, lediglich ein bißchen pathetisch sein zu wollen, weil’s halt manchmal guttut. Aber niemand soll sich Pathos als die Fähigkeit zu mehr Leben schönreden, niemand soll von sich behaupten, er verkörpere die Idee vom schönen Leben; also können wir nur schwer erwarten, daß unser Leben mit Bedeutung vollgepackt ist.

Achtes Kapitel
1
    Samstag, 14. April, 2001. – Vormittags.
    Ich hatte in der Bibliothek geschlafen, erst im Fauteuil, anschließend auf dem Teppich. Mehrmals bin ich aufgewacht, habe mich über die Wendeltreppe nach oben geschlichen, den Kopf durch die Bodenluke in mein Arbeitszimmer gesteckt. Nichts als die Spanne vom Mund zur Nase war unter der Zudecke zu sehen. Ich lauschte auf seinen Atem. Und lauschte auf die Lokomotive der »postoperativen Euphorie«, die auf mich zudonnerte: Mein Sohn David ist bei mir! Um sieben stellte ich mich unter die Dusche – die war noch immer ein Provisorium, weil ich es in meiner »postoperativen Depression« nicht über mich gebracht hatte, mit dem Installateur einen neuen Termin zu vereinbaren.
    Dies waren meine ersten Vorsätze: Ich werde vor ihm so tun, als ob ich mich selbst darüber wunderte, daß ich ihn gleich bei seiner Ankunft in mein Herz geschlossen habe. Ich werde so tun, als ob ich mir nicht gleich nach seiner Ankunft von seiner Mutter Anweisungen eingeholt hätte. Ich werde so tun, als ob ich nichts von seinem Selbstmordversuch wüßte. Ich werde nicht so tun, als ob ich mich zwanzig Jahre lang auf diesen Tag gefreut hätte, weil er, ein Minimum an Menschenkenntnis und Welterfahrung vorausgesetzt, das nicht glauben würde; sondern ich werde so tun, als ob ich zwar immer, aber eher untergründig an ihn gedacht hätte, indem ich mich als Vater fühlte , daß bisweilen aber eine Sehnsucht in mir aufgestiegen sei und ich mir, sozusagen in einem längeren Gedankenspiel, erlaubt hätte, mir vorzustellen, er und ich fänden irgendwie irgendwann zusammen, und sei es auch nur – hier wollte ich eine ironische Brechung einfügen, damit ich nicht als sentimentaler Lügner dastehe –, um vor ihm, meinem Sohn, damit angeben zu können, was aus mir geworden sei, nämlich einer, der zweiundzwanzig Bücher geschrieben hat. Auf alle Fälle werde ich so tun, als ob ich nicht vorhätte, ihn gegen seine Interessen in Wien zu halten.
    Daß ich David, Dagmar und mich an diesem Morgen unter der Dusche so selbstverständlich zueinanderrechnete – ohne die geringsten biographischen Kenntnisse aus Davids und Dagmars vergangenen zwanzig Jahren –, daß ich uns drei in ein Familienartiges zusammenfaßte, ließ mich die Melodramatik des Plots, der sich in mir zu spinnen begann, mitsamt ihrem süßen Vokabular annehmen wie den Erlösungssegen aus dem österlichen Kreuzzeichen. (Es war Karsamstag!) Und ich wies mir auch gleich eine Rolle in dem Film zu – die des Padrone , der keine andere Moral kennt, als die Trinität von Vater, Mutter, Kind zu erhalten und zu verteidigen, selbst auf Kosten jedes einzelnen der Zehn Gebote. Ich drehte das Wasser heißer, bis die Haut am Rücken juckte. Ich glühte in meiner Sendung, und daß ich zugleich über dieselbe grinste – und, wie ich, wenn ich den Duschvorhang etwas beiseite schob, schemenhaft in dem sich beschlagenden Spiegel sah, grimmig optimistisch grinste –, ließ mich darauf vertrauen, daß ich von einem Schicksal getragen wurde, das großräumig genug war, um auch seine eigene Verspottung in sich einzuschließen. »Welche Rolle der Mensch auch spielen mag«, versichert uns der über jedes Fragezeichen erhabene Montaigne, »stets spielt er die seine mit.« Ich werde so tun, als ob ich ein Vater wäre.
    Und dann die Sensation: Durch Schütteln, Kraulen, Kneten, Reiben war es mir gelungen, so viel Blut in meinen Penis zu pumpen, daß er sich in eine Schräge von fünfundvierzig Grad erhob und eine halbe Minute lang so blieb, während das Wasser auf ihn niederrauschte. Das war durch rein mechanische Einwirkung geschehen, ohne Hilfe der Einbildungskraft. Mein Penis, bildete ich mir ein, war seit der Operation länger und in seiner Mitte schmaler geworden, auch blasser, unterhalb der Eichel eingefallen wie ein altes Gesicht, seine Haut zog vertikale Fältchen, eine Ader trat hervor. Dem Rat des Arztes folgend, hatte ich ihn in den ersten Wochen mehrmals täglich stimuliert, aber wenn ich die Hand von ihm nahm, schmiegte er sich

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