Abendland
schuld. Und nebenbei gesagt, der Ochs auch nicht. Die Mahnmale nach dem Holocaust, was sagen die? Wenn sie von Nichtjuden errichtet werden, steht dahinter der vom schlechtesten Gewissen aller Zeiten befohlene Sühnewunsch, nämlich: selbst ein Jude zu sein – ein Ehrenjude sozusagen, wobei die Ehre darin besteht, einer zu sein, der nichts gegen Juden hat. Diese Mahnmale sind umgedrehte Verdienstkreuze, die sich die Gojim an die Brust heften. Und Jad Vashem? Waren Sie schon einmal in Israel?
»Auch nicht, leider.«
»Merkwürdig. Jedesmal, wenn ich dort war, habe ich deutsche Jungen und Mädchen gesehen, die ihre Stirn gegen die Klagemauer schlugen.«
»Sie sind sehr ungerecht. Aber ich glaube immer noch nicht, daß es Ihr Ernst ist.«
»Haben Sie sich jemals überlegt, warum sich die deutsche Linke von allen nationalen Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt ausgerechnet in die der Palästinenser so sehr verknallt hat? Doch nicht etwa, weil ihnen deren Feind als Feind so nahe steht? Oder vielleicht gerade deshalb? Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Wenn ein Mensch einen anderen Menschen zum erstenmal trifft, soll er entweder sagen: ›Ich bin Jude. Falls du keiner bist, will ich dir nur mitteilen, daß ich dir nicht vorwerfe, was unsereinem von euereinem angetan wurde.‹ Genau das sagen all die Jad Vashem. Oder, wenn dieser Mensch kein Jude ist, soll er sagen: ›Falls du ein Jude bist, sei versichert, ich werfe dir nicht vor, daß du mir vorwirfst, was unsereiner euereinem angetan hat.‹ Das steht in den Gesichtern der Nichtjuden geschrieben, die Jad Vashem besuchen. Ist das besser? Wir bewegen uns in die Zukunft wie der Engel der Geschichte. Im Rückwärtsgang nämlich. Den entsetzten Blick nach hinten gerichtet, wo sich die Leichen der Ermordeten bis in die Wolken hinauf türmen. Und weil uns der Wind, der aus dem Paradies weht, weg von den Leichen nach vorne treibt, meinen wir, wir hätten das Recht, die Leichen als Argumente für irgend etwas zu verwenden, damit sie wenigstens für irgend etwas verwendet werden. Wer hat Ihrer Meinung nach Jesus Christus umgebracht?«
»Keine Ahnung. Ich war damals noch nicht auf der Welt.«
»Kein guter Witz.«
»Keine gute Frage.«
»Die Frage ist nicht so schlecht. Die Antwort könnte lauten: Die Juden haben ihn umgebracht.«
»Ich denke, die Römer haben ihn umgebracht.«
»Warum denken Sie das?«
»Es gibt historische Belege, denke ich.«
»Über Jesus Christus existiert nicht ein einziger gesicherter historischer Beleg. Zum Glück gibt es die Römer. Schließlich haben die Deutschen ja nicht sechs Millionen Römer ermordet. Angenommen, sie hätten, dann wären für unsere lieben nichtjüdischen altlinken Achtundsechziger bestimmt die Juden die Christusmörder gewesen. Meinen Sie nicht auch?«
»Das habe ich nicht richtig mitbekommen. Aber wenn ihn tatsächlich die Juden umgebracht hätten? Und? Ich kann mir vorstellen, daß es fünfzig fünfzig steht. Daß die Römer ungefähr ähnlich wahrscheinlich die Mörder von Jesus sind wie die Juden, oder? Aber den Italienern hat man das nie vorgeworfen. Das kommt übrigens nicht von mir, das kommt von meinem ehemaligen Geschichtslehrer. Mich interessiert dieses Thema nicht besonders, tut mir leid. Das werden Sie als Jude mir sicher vorwerfen. Aber das Thema interessiert mich einfach nicht besonders. Geschichte überhaupt nicht so sehr. Ich bin kein Jude, Sie sind Jude. Was ist der Unterschied?«
»Das will ich Ihnen sagen: Der Holocaust hat das Buch ersetzt. Das ist eine bestürzende Diagnose. Über zweitausend Jahre war die Tora der Stab, an dem sich jeder Jude festhalten konnte, wenn er sich auf schwankendem Boden durch die Finsternis bewegte. Ich bin Jude, weil meine Mutter Jüdin ist, ja, das auch, aber zuvorderst doch: Ich bin Jude, weil ich glaube, was in der Bibel steht. Und nicht nur das. Ich brauche die Bibel nicht einmal zu lesen. Ich bin Jude, weil ich weiß, daß die Bibel unser Buch ist. Die Tora ist uns, und zwar nur uns Juden geschenkt worden von Gott. Heute heißt es: Ich bin Jude, weil ich zu denen gehöre, die Hitler ausrotten wollte. Und die Juden sind eifersüchtig auf jeden Massenmord – auf die Opfer von Stalin, die Opfer der Roten Khmer, den Völkermord in Ruanda. Immer muß dazugesagt werden: Halt, das läßt sich nicht mit dem Holocaust vergleichen! Aber wer will denn vergleichen? Kein Mensch mit halbwegs gesundem Verstand will Massenmord mit Massenmord vergleichen. Aber viele Juden
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